Werner David und Bernd Prawalsky: "Wir sind das Volk" ist längst verhallt

24.04.2014

Die beiden Leipziger Kollegen Werner David und Bernd Prawalsky waren 1989 Drucker in der Interdruck, der größten Druckerei der DDR, und Mitglieder der Abteilungsgewerkschaftsleitung. Werner David ist zehn Jahre später Landesbezirkssekretär der IG Medien im LBZ Südost, sein Kollege Bernd Prawalsky Betriebsratsvorsitzender bei Offizin Andersen Nexö, Ortsvereinsvorsitzender der IG Medien in Leipzig und ehrenamtliches Mitglied des Hauptvorstandes der IG Medien.

 
Werner David und Bernd Prawalsky

Nach zehn Jahren: "Wir sind das Volk" ist längst verhallt
DRUCK+PAPIER-Gespräch mit zwei Leipzigern - "Gewerkschaften wieder mehr ins Blickfeld rücken!"

Zehn Jahre ist es her: friedliche Revolution, Mauerfall und politische Wende in der DDR. Der "heiße Herbst 1989" ist anläßlich des runden Jubiläums wieder in aller Munde. Historische Abrisse in allen Medien, Erinnerungen aus allen Blickwinkeln, Bilder von Massendemonstrationen und tapferen Bürgerrechtlern. Die allermeisten sind sich einig: Diese Ereignisse gehören zu den schönsten Kapiteln deutscher Geschichte. Unumstritten ist und bleibt auch der Ursprungsort der friedlichen Revolution: Leipzig. Die Beinamen "Heldenstadt der DDR" oder "Wiege der Wende" sind längst verstaubt und scheinen auch in der sächsischen Metropole schon vergessen; aber seit 1990 erinnern jeweils im Oktober verschiedene Veranstaltungen an den Herbst 1989. Für DRUCK+PAPIER sprach Gundula Lasch mit zwei Menschen, die eng mit Leipzig verbunden sind, beide gelernte Drucker sind und zu den ersten Mitgliedern der IG Medien in den neuen Ländern gehörten.

Bernd Prawalsky ist 58 Jahre alt, Betriebsratsvorsitzender im Druckereiunternehmen Offizin Andersen Nexö (OAN), außerdem IG-Medien-Ortsvereinsvorsitzender in Leipzig und von Anbeginn Vertreter des Landesbezirks Südost im Hauptvorstand der IG Medien. Vor zehn Jahren war er als Drucker im Leipziger VEB Interdruck, der größten Druckerei der DDR, beschäftigt und gehörte der sogenannten Abteilungsgewerkschaftsleitung (AGL) an. Werner David (48) war im selben Betrieb tätig, ebenfalls AGL-Mitglied und ist seit 1991 hauptamtlich als Gewerkschaftssekretär bei der IG Medien beschäftigt. Nebenbei ist David professioneller Karikaturist mit regelmäßigen Ausstellungen und Veröffentlichungen.

Als "Ruhe vor dem Sturm" erlebte Bernd Prawalsky den Sommer 1989, als die große Fluchtwelle über die ungarisch-österreichische Grenze begann und sich dann in der deutschen Botschaft in Prag fortsetzte. Besonders deutlich ist ihm der 7. Oktober, der 40. Jahrestag der DDR, als Auslöser für die Massendemonstrationen in Erinnerung: "Als sich in der Leipziger Innenstadt inmitten des traditionellen Markttreibens spontan ein Demonstrationszug formierte, reagierten die Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken und Wasserwerfern. Völlig unschuldige Menschen wurden angegriffen, gerieten zwischen die flüchtenden Massen, Kinder wurden über den Haufen gerannt. Da schlug die Welle der Empörung hoch. Ich denke, das rüttelte auch die letzten auf und trieb am 9. Oktober über 70000 Menschen auf die Straße." Der Ruf der Massen "Wir sind das Volk" ist für Prawalsky das beste Motto des 1989er Herbstes. Ab Mitte Oktober ging auch er zu den Demos - immer mit dem Gedanken daran, diesen Staat zu verändern. Einen Anschluß an die Bundesrepublik wollte er, wie viele zu dieser Zeit, auf keinen Fall.

Auch Werner David wollte damals die DDR erneuern, aber nicht abschaffen: "Als die Fluchtwelle begann, hatte ich - und mit mir viele Leipziger Künstler - das Bedürfnis, etwas dagegen zu setzen. Ich machte Zeichnungen für die Aktion ,Leipzig, ich häng' an Dir', die der Kabarettist Bernd-Lutz Lange initiiert hatte. Die Stadt sollte nicht ausbluten, wir wollten zum Hierbleiben ermuntern." Daß die Republik nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch am Ende war, sei am Arbeitsplatz schon lange zu spüren gewesen. "Ab Anfang 1989 hatten wir kaum noch Arbeit, und das Planziel wurde nicht erreicht." Im August dieses unruhigen Jahres wurde Davids Tochter geboren. "Meine Frau und ich spürten die zunehmende Unsicherheit dadurch um so stärker."

Kampfgruppeneinsatz am 9. Oktober 1989: Kollegen gegen Kollegen

Ein Riß war durch die Interdruck-Belegschaft gegangen, als die Mobilmachung der Kampfgruppen am 9. Oktober 1989 angekündigt wurde, damit man die "sozialistische Demokratie zur Not mit der Waffe in der Hand verteidigen" könne. Als großer Betrieb hatte Interdruck eine solche Kampfgruppeneinheit. Deren Mitglieder sollten sich den Demonstranten entgegenstellen und, wenn befohlen, ihre Waffen auch gegen Verwandte, Freunde, Kollegen richten. Obwohl die Emotionen kochten, hatte es bis dahin unter den Kollegen nie eine direkte Konfrontation der verschiedenen Meinungen gegeben. Aber am 9. Oktober stellte Werner David einen Kollegen zur Rede, der Mitglied der Kampfgruppe war: "Ich fragte ihn: Wirst Du schießen? Er schlug mir die Tür vor der Nase zu."

Ein paar Wochen später hatten die friedlichen Demonstrationen in der ganzen DDR die Mauer zum Einstürzen gebracht. Werner David wird den Tag nie vergessen, als er völlig ahnungslos von der Eröffnung seiner Ausstellung in Polen kam und in Leipzig mit der Nachricht empfangen wurde, daß in der Nacht zuvor die Grenzen geöffnet worden waren. In einen Freudentaumel fiel er trotzdem nicht: "Ich hatte unter den Reisebeschränkungen der DDR nie sonderlich gelitten. Vielmehr wurde mir klar, daß der Traum von einer erneuerten DDR immer unwahrscheinlicher wurde."

Neues Gewerkschaftsleben: Mitläufer in die Wüste geschickt

Dieser heiße Herbst war der Beginn tiefgreifender Veränderungen. Doch das hatten anfangs nicht alle begriffen: "Mitte Oktober ging plötzlich eine fieberhafte Bewegung durch die hauptamtlichen Reihen der DDR-Gewerkschaft. In Windeseile wurden neue Statuten gedruckt, man versuchte, sich schnell einen neuen Außenanstrich zu verpassen. Doch wir durchschauten schnell, daß die alten Funktionäre an ernsthaften inneren Reformen der Gewerkschaft nicht interessiert waren. Das Vertrauen der Beschäftigten konnten sie durch diese oberflächlichen Aktionen nicht gewinnen: Wir schickten sie per demokratischer Wahl in die Wüste", berichtet Bernd Prawalsky. Wenig später fielen die Gewerkschaften aus dem Westen bei Interdruck ein. David: "Ich bezeichne das heute als unblutige Landnahme."

Doch die Belegschaften waren hellwach, und so zogen auch die vielen Mitläufer, die sich vorher nie engagiert hatten und nun versuchten, sich im betrieblichen Umfeld als Gewerkschafter zu profilieren, den Kürzeren: "Nach etlichen Grabenkämpfen, Denunziationen und anderen unschönen Szenen bekamen wir alles ganz gut ins Lot, die Gewerkschaftsarbeit konnte neu beginnen", so David. Es gab die ersten Kontakte zur IG Medien aus den alten Bundesländern, und bald darauf wurde die alte DDR-Gewerkschaft Druck und Papier aufgelöst. IG-Medien-Kollegen aus Nordrhein-Westfalen unterstützten die Leipziger Kollegen mit Rat und Tat.

1991: Neu gegründete IG Medien Südost mit 32000 Mitgliedern

Am 12. Juli 1990 gründete sich im Speisesaal von Interdruck der Ortsverein Leipzig der IG Medien; auf dem ersten Bezirkstag wurde Bernd Prawalsky zum Bezirksvorsitzenden gewählt. 32000 Mitglieder hatte der Landesbezirk Südost der IG Medien ein Jahr später in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (heute ist es nur noch ein reichliches Drittel). Es brachen harte Zeiten für den Betriebsratsvorsitzenden Prawalsky an: "Von den ehemals 4000 Beschäftigten bei Interdruck blieb nur ein kleines Häufchen übrig. Ich muß wohl nicht näher erklären, daß meine letzten zehn Jahre vor allem aus schwieriger Betriebsratsarbeit bestanden. Zwischen 80 und 90 Leute sind wir jetzt, je nach Auftragslage." Ebenso schwierig wurde es für Werner David: "Leider gehörte ich Ende 1990 zu den ersten, die bei Interdruck entlassen wurden. In meiner reichlichen Freizeit engagierte ich mich für die IG Medien. Als mich 1991 Udo Hautmann, unser Landesbezirksvorsitzender, ins Boot holen wollte, sagte ich zu. Seitdem mühe ich mich in Südost, was immer mehr wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel anmutet." Der Niedergang der maroden DDR-Industrie brachte dem jungen Landesbezirk Südost Mitgliedereinbußen in Größenordnungen. Zusätzlich macht den Gewerkschaftern die geduckte Haltung der Kolleginnen und Kollegen bis heute zu schaffen: "Die allgegenwärtige Angst vor der Arbeitslosigkeit läßt die meisten in Agonie verharren, anstatt für die eigenen Rechte einzutreten", weiß Werner David.

Angesichts der derzeitigen Lage fällt es den beiden Leipzigern schwer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Bernd Prawalsky fordert: "Wir als Gewerkschaft müssen eine neue Wertediskussion in der Gesellschaft entfachen. Und wir müssen den Menschen wieder deutlicher klar machen, welche wichtige Rolle den Gewerkschaften in unserer Gesellschaft zufällt. Sie müssen begreifen, daß die Initiative jedes einzelnen nötig ist, wenn es um die ureigensten Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geht." Der Betriebsratsvorsitzende ist oft erschrocken über den Egoismus, die Ignoranz und das politische Desinteresse in seinem Umfeld: "Vor zehn Jahren haben wir für Freiheit und für Demokratie demonstriert - jetzt scheint das viele nicht mehr zu interessieren." Aber der engagierte Gewerkschafter ist nicht nur frustriert: "Mein Gesamterfolgserlebnis ist, daß wir die beiden Produktionsbetriebe Interdruck und OAN trotz Gesamtvollstreckung (Konkurs) retten konnten und sie jetzt als ein Betrieb weiter arbeiten. Mein größter Wunsch als Betriebsrat ist es, daß meine Kolleginnen und Kollegen in absehbarer Zukunft soviel verdienen, wie ihnen zusteht. Da könnte ich meinen Ruhestand ganz anders genießen."

Landesbezirkssekretär Werner David wünscht sich, daß die Menschen in den neuen Ländern wieder mehr Mut fassen, ihre Forderungen zu artikulieren, und sich nicht frustriert in die alten Nischen zurückziehen. "Uns muß es jetzt endlich gelingen, unsere Stärken als Gewerkschaft wieder mehr ins Blickfeld zu rücken, Mitglieder zu gewinnen und überzeugend zu argumentieren. Wenn diese Mobilisierung nicht gelingt, sehe ich schwarz für unsere Zukunft", umreißt er den Ernst der Lage und stellt fest: "Das Kapital ist zynisch und menschenverachtend - ich werde nicht nachlassen, dies zu vermitteln. Keiner hat das Recht, sich auf Kosten anderer zu bereichern! Das ist und bleibt mein Antrieb für die tägliche Arbeit." Doch die beste Motivation für David sind die Rückkopplungen durch die Mitglieder, wie neulich der Brief eines Schriftstellers, der sich mit einem Problem an seine Gewerkschaft gewandt hatte und dann schrieb: "Es ist ein gutes Gefühl, nicht alleine dazustehen."

Text: Gundula Lasch