1989 war der gelernte Maurer und studierte Gesellschaftswissenschaftler Wolfgang Brunner Bezirkschef des Hauptstabs in der Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der Nationalen Volksarmee in Berlin. Zwanzig Jahre später ist er Gewerkschaftssekretär beim ver.di-Bundesvorstand und u. a. Bundesfachgruppenleiter der FG Stationierungsstreitkräfte.
Das folgende Interview führte Annette Showell-Moosbrugger vom Archiv der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) mit Wolfgang Brunner am 25. Februar 2010.
ver.di-Archiv: Wolfgang, du bist heute Gewerkschaftssekretär in ver.di und u. a. zuständig für den Bereich Stationierungsstreitkräfte. In diesem Bereich hast du bereits in der DDR gearbeitet, als Hauptamtlicher für die Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der Nationalen Volksarmee (NVA). Was waren dort deine Aufgaben?
Wolfgang Brunner: Ich war seit 1978 hauptamtlich bei der Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der NVA. Der Grund dafür war meine ehrenamtliche Tätigkeit. Ich war vorher Vertrauensmann - das gab es ja auch in der DDR bei manchen Gewerkschaften. Ich war Zivilbeschäftigter bei der NVA, hatte studiert - Kulturwissenschaften - und bin dann in einem Klubhaus tätig gewesen. Das war normal - 90 bis 95 Prozent der DDR-Bürger waren Gewerkschaftsmitglieder in einer Einzelgewerkschaft im FDGB.
Ich habe also hauptamtlich Kulturarbeit gemacht und war ehrenamtlich in der Revisionskommission. Und weil ich das war, musste ich auf einer Tagung Rechenschaft ablegen. Mein Beitrag muss Leute bewegt haben, mich später darauf anzusprechen, ob ich nicht Interesse daran hätte, hauptamtlich bei der Gewerkschaft zu arbeiten. Ich habe sehr lange überlegt, weil das ja auch eine finanzielle Frage war, und meine Familie damit einverstanden sein musste, da habe ich immer großen Wert darauf gelegt.
'78, im September, bin ich dann in die Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten in Strausberg, am Sitz der Gewerkschaft, als normaler Gewerkschaftssekretär gewechselt und habe dort Kultur- und Bildungsarbeit gemacht. Das ging von oben nach unten, von Arbeiterfestspielen bis hin zu Programmen für Kollektive, so war das Kulturleben in der DDR. dadurch bin ich mit vielen Künstlern und anderen interessanten Leuten zusammengekommen.
ver.di-Archiv: Eure Gewerkschaft hatte eine Sonderstellung im FDGB. Was waren konkret diese Besonderheiten?
Wolfgang Brunner: Bis in die 70er Jahre waren Gewerkschaftsmitglieder, die als Zivilbeschäftigte der NVA arbeiteten, zwar eine eigene Gruppierung, gehörten aber zur Gewerkschaft MSK (Mitarbeiter der Staatsorgane und der kommunalen Wirtschaft). Diese Untergruppe wurde dann 1973 eine eigene Gewerkschaft, ähnlich wie die Wismut, die zum Bereich Bergbau gehörte, aber aus politischen Gründen bereits seit 1950 eigenständig war. Das waren also zwei kleine, spezielle Gewerkschaften, und die Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten war, auch auf Grund der Mitgliederzahlen, eine sehr kleine Gewerkschaft.
Außerdem war sie deshalb besonders, weil die Zivilbeschäftigten der NVA ja zu einem gewissen Teil eingebunden waren in die ganzen Geschäfte, die eine Armee betreffen. Diese Besonderheiten bestanden in zweierlei Hinsicht.
Das Eine war die Struktur. Diese Gewerkschaft hat sich nach den Kommandostrukturen der Armee gegliedert, nicht wie andere Gewerkschaften nach Bezirken. Wir hatten z. B. die Bereiche "Chef des Hauptstabes" oder "Rückwärtige Dienste" (die für die Versorgung der NVA zuständig waren) und alle Leute, die dort arbeiteten, waren dann so disloziert, aufgeteilt.
Die zweite Besonderheit lag in den Lohn- und Gehaltsbedingungen. Im Bereich des Stabes wurde eine Abteilung geschaffen, die die sogenannten Rahmenkollektivverträge mit der Gewerkschaft aushandelte. Eigene Rahmenkollektivverträge, für die wir die Entlohnungsbedingungen verhandelten. Wenn man das verhandeln nennen kann. Wir brauchten z. B. in einem Bereich für die Beschäftigten mehr Lohn und Gehalt, und dann haben wir gemeinsam geguckt - wie das in einer Planwirtschaft ist -, wie viel wir im Militärhaushalt dafür einplanen können. Wir waren dem Militärhaushalt angegliedert. Dann wurde uns eine Millionensumme genannt, und die Gewerkschaften machten einen Vorschlag, welche Gruppen wie eingruppiert, höher gruppiert oder eben anders bezahlt werden.
ver.di-Archiv: Wie hast du die Veränderungen in der DDR vor dem Mauerfall erlebt? Wie hat eure Gewerkschaft darauf reagiert?
Wolfgang Brunner: Ich war in der Zeit Bezirkschef vom Hauptstab, wie man heute sagen würde: Bezirksleiter oder Landesbezirksleiter. Wir hatten regelmäßig Treffen, Seminare oder Klausuren. Auf solch einer Klausur im Januar 1989 hatten wir Leute vom Institut für Ökonomie des Zentralkomitees der Partei bei uns, die einen Vortrag gehalten haben über die ökonomische Entwicklung der DDR. Die war schon sehr kritisch, da bin ich schon zweimal mächtig zusammengezuckt.
Als wir später privat in einem kleinen Kreis zusammen waren, sagte der Referent, sie hätten ein Modell entwickelt: Umstellen auf komplette Marktwirtschaft. D. h. Kapitalmarkt, Aktienmarkt, Arbeitsmarkt. "Ein bisschen Sozialismus und ein bisschen Kapitalismus, das geht nicht, das wird nicht funktionieren."
Das hat mich tief getroffen.
Kurze Zeit später sagte ein mir befreundeter Kollege zu mir unter vier Augen, so ein bisschen hinter vorgehaltener Hand, so wie das ja immer gemacht wurde: "Du, Wolfgang, wenn wir so weitermachen, kommen wir in zehn Jahren oder fünf Jahren auf den Hund. "
Da ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, wie schlimm es wirtschaftlich um die DDR bestellt sein musste.
Ich habe das erst einmal für mich behalten, auch nicht mit meiner Frau darüber gesprochen. Es ordnete sich aber in das ein, was meine Frau und meine Freunde und Bekannten, von denen einige im Gesundheitswesen waren, immer wieder gesagt haben, die natürlich viel näher, als ich das zugestehen wollte, dran waren an der Realität des Alltags, an dem Mangel und diesen furchtbaren Sachen.
Ich bin dann stutzig geworden, als ich kurze Zeit später bei meinem Bruder war, der Arbeiter im Stahl- und Walzwerk Riesa war, und mir dieses Werk angeguckt hatte. Das war fast 20, 25 Jahre später, als ich dort gearbeitet habe, und es sah eigentlich noch genauso aus, wie ich es kennengelernt hatte. Die Produktionsstätten waren furchtbar.
Ich konnte mich mit dem Direktor unterhalten, der mir sagte: "Ja, Wolfgang, wir haben eine Reinvestitionsrate von 7 bis 8 Prozent, damit können wir die nötigsten Reparaturen machen, aber wir können nicht modernisieren."
Das sind alles Kleinigkeiten, einfach Dinge, an denen wir '89, noch bevor die große Ausreisewelle kam, auch offiziell merkten, dass diese DDR wirtschaftlich am Ende ist. Ich bin überzeugt, man hat's im Westen gewusst, aber man wusste wahrscheinlich auch dort nicht, wie dramatisch das war. Man spricht ja heute davon, dass da etwa 150 bis 300 Milliarden DM hätten investiert werden müssen, um die DDR zu retten.
1989 war es eigentlich schon so, dass man das deutlich merkte. Ich sage nach wie vor, sicher war der Freiheitsdrang der Leute groß, und der Blödsinn, die Leute einzusperren, für keinen mehr nachvollziehbar, und das ist auch ein Grund, warum die Leute dann über die Grenze sind, aber vorwiegend, das ist meine persönliche Meinung, waren es ökonomische, wirtschaftliche Gründe, die die Menschen 'rüber getrieben haben. Da ist das bessere Leben, da hab ich Arbeit, da geht's mir gut, mal abgesehen davon, dass ich dann eben nach Frankreich und nach Italien und sonstwohin kann. Mir geht's dann besser, ich kann mir dann mehr leisten, da ist ein besseres Angebot.
Das Schlimme war ja: '88, schon '87, konnte man merken, dass die Versorgung in der DDR, die in der Zwischenzeit eigentlich ganz gut war, massiv wieder nach unten ging. Man stand dann wieder stundenlang für irgendetwas an.
Wir haben Zwillinge, Mädchen. Als meine Frau und ich hörten, dass es Hosen im Centrum-Warenhaus geben wird, habe ich sogar freigenommen, und wir sind dann da 'reingestürzt, um für die Kinder jeweils zwei Paar Hosen zu kaufen. Also das waren die Dinge, die die Leute dann auch genervt haben.
Dazu kamen die Veränderungen in der Sowjetunion und in Polen, mit der Wahl Gorbatschows 1985, und noch früher den Ereignissen auf der Danziger Werft '79, und die Reaktion der DDR-Führung darauf. Man verbot den "Sputnik" und man verbot den Leuten, über Glasnost und Perestroika zu sprechen.
Da hat sich jeder, der halbwegs normal denken konnte, gesagt: "Also, was soll das eigentlich?"
Vierzig Jahre lang - ich bin so groß geworden - hieß es "Von den Freunden lernen, heißt siegen lernen", das war das große Lager, das Vorbild, das kommunistische Bruderland, und dann auf einmal kommt man und sagt das. Ich halte das auch für eine Ursache, die zum Unmut beigetragen hat.
Es gab in der DDR, das muss man sehen, zwei Dinge:
Das eine sind die Leute, die ich bewundere, die den Mut hatten, richtig zu rebellieren. Richtig dagegen aufzustehen, Rede- und Pressefreiheit einzufordern, auch mit der Maßgabe, dafür ins Gefängnis zu gehen und sehr diskriminiert zu werden, in furchtbarer Art und Weise, das kann man nur verurteilen. Die bewundere ich, auch, weil ich nicht dazu gehörte.
Aber auf der anderen Seite gab es im internen Apparat und überall Diskussionen, ganz anders als noch in den 70er Jahren. Mitte der 80er Jahre gab es sehr massive Diskussionen, und daran merkt man auch, dass diese Änderungen schon tief in den Schichten der Bevölkerung durchgedrungen waren.
Nicht von außen. Es sind nicht über Nacht plötzlich 400 000 am Alexanderplatz gewesen, und auch nicht über Nacht '89 aus 2,3 Millionen Parteimitglieder 165 000 geworden.
Daran sieht man, dass das System in der DDR am Ende ein ganz fragiles politisches Gebäude gewesen ist. Wahrscheinlich war's das schon immer, aber man hat es oft nicht so empfunden. Der Alltag war ja nicht nur geprägt von Überlegungen ökonomischer oder sozialer Art oder durch das kritische Betrachten des eigenen Heimatlandes. Sondern der Alltag war oft geprägt dadurch, dass man sich versorgen musste, aber auch mit Freunden nett zusammen war.
ver.di-Archiv: Ihr hattet im März eine wichtige Sitzung in eurer Gewerkschaft. Was hatte dazu geführt, dass eure Gewerkschaft dort entscheidende Beschlüsse gefasst hat, die eure Organisation wesentlich verändert haben? Und worin bestanden diese Änderungen?
Wolfgang Brunner: Begonnen hat das schon bedeutend früher. Im Spätsommer 1989 sind wir auch intern sehr, sehr kritisch mit der Situation in der DDR umgegangen, politisch. Denn das spürte man ja nun ganz deutlich, im Spätsommer, im Frühherbst, dass nicht nur etwas faul ist, sondern das ganze Ding. Unsere bangen Fragen waren: Was passiert jetzt? Kommen wir in einen Umbruch? Auch das wurde schon diskutiert. Wird etwas mit Gewalt niedergehalten, öffnen wir uns oder was auch immer sollen wir tun?
Ein kleines Beispiel: Ich kann mich noch gut entsinnen, ich war da schon nicht mehr in der Partei…
Ich bin im Sommer aus der Partei ausgetreten, weil ich gesagt habe, das ist nicht mehr das, wozu ich stehen kann. Gut, jetzt mag man sagen, bist ein bisschen spät 'rausgegangen, aber ich hab' dann gesagt, es geht nicht mehr. Ich bin zu meiner Frau gegangen und habe gesagt, das ist ja unmöglich, was da passiert. Das hing auch mit den Fluchtplänen unserer Freunde zusammen. Freunde von uns waren über die Prager Botschaft geflohen. Das hat mich also wesentlich berührt, und ich habe gesagt, da kann was nicht in Ordnung sein. Aber ich hatte nicht den Mut gehabt, das wie andere offen auszutragen.
Es gab damals in der Gewerkschaft durchaus viele, die gesagt haben, wir müssen etwas ändern, wir müssen die Satzung ändern. Das wurde ganz offen diskutiert. Überall stand "führende Rolle der Partei" - das musste auf jeden Fall 'raus. Es mussten auch noch ganz andere Sachen geändert werden, Mitspracherechte mussten verändert werden, die Stellung der Gewerkschaften musste freier, unabhängiger werden. D.h. die führende Rolle der Partei gilt für die Gewerkschaften nicht. Das ist schon im Herbst diskutiert worden, da war noch keine Rede von einem Mauerfall.
Ich erkrankte kurz vor dem Mauerfall, leider. Meine Familie war da an dem Abend, aber ich lag mit Fieber im Bett, hab' also gar nichts mitgekriegt.
Davor aber bekam ich einen Entwurf zugeschickt, wie alle in unserer Gewerkschaft. Ich war damals schon Leiter der Geschäftsstelle Berlin. Wir alle bekamen einen Entwurf über die Satzungsänderung. Da stand das z. B. noch drin. Ich weiß noch, dass ich gesagt habe, die "führende Rolle der Partei" muss 'rausgestrichen werden. Viele haben das immer noch nicht so haben wollen, aber ich hab' gesagt, das muss 'raus. Ich hab' dann telefoniert mit meinen Leuten, und schließlich ist es auch so passiert. Immer noch mit dem gleichen Apparat.
Das muss im Spätherbst, November, Dezember, gewesen sein. Immer noch mit den gleichen Leuten.
Auf der Tagung im März haben wir dann den Vorsitzenden des Zentralvorstandes, Helmut Klabunde, einstimmig abgewählt und den amtierenden stellvertretenden Vorsitzenden, Bernd Nickel, zum Leiter eines neu eingesetzten Arbeitssekretariats gewählt.
Ich blieb, was ich war, in Berlin: Leiter der Geschäftsstelle.
Ich kann mich noch gut entsinnen, weil ich oft mit dem Kollegen Nickel, den ich sehr gut kenne und kannte, zusammengearbeitet habe. Bernd war ein sehr, sehr kritischer Mann. Er war zwar, wie ich auch, bewusst in dieser DDR, aber er war völlig anders als der bisherige Vorsitzende.
Die Vorsitzenden der Gewerkschaft waren immer alte Oberste gewesen, die dann das neue Amt als Zivilisten übernahmen, aber das Militärische nie abgelegt hatten, so wie Helmut Klabunde. Das war natürlich uns, die normalen Wehrdienst gemacht hatten, wenn überhaupt, völlig wesensfremd. Das hat mich immer gestört.
Aber dann wurde auch innerhalb der Armee Druck aufgebaut. Da wackelten plötzlich Positionen, schon im März. Da hat keine Partei mehr dazwischen geredet, "Das dürft ihr nicht machen". Das war dann schon alles obsolet, das war erledigt, längst erledigt im März.
Helmut Klabunde ist abgewählt worden, im März auf unserer 15. Sitzung, und da war schon klar, dass wir uns komplett neu orientieren müssen.
Nach den ersten freien Wahlen war die DDR politisch völlig neu aufgestellt. Und auch wir mussten uns ja dann sagen, da kann man nicht mehr weitermachen, sondern da muss prinzipiell etwas passieren, organisatorisch und inhaltlich.
Auf dem 1. ordentlichen Gewerkschaftstag im Juni ist dann diese komplett neue Satzung beschlossen worden vom 1. ordentlichen Gewerkschaftstag und eine neue Führung gewählt worden. Wir haben einen geschäftsführenden Vorstand gewählt, ehrenamtlich, und Hauptamtliche. Die Spitze bestand aus dem Vorsitzenden, dem Stellvertreter und den Ehrenamtlichen. Die im Arbeitsverhältnis stehenden Kolleginnen und Kollegen haben wir natürlich in der Funktion belassen. Ein, zwei sind dann von sich aus zurückgetreten, die schon älter waren. Aber in der Masse sind sie geblieben. Und diese Mannschaft war auch in einigen Teilen schon neu, ganz anders als die vorher.
Eine Sache muss ich noch sagen: Ich bin '89, als die Mauer fiel, im Dezember nach Wannsee gefahren. Ich kann mich noch gut entsinnen, dass ich am Grenzübergang meinen Aktenkoffer hinstellte und man mich fragte, ob ich dienstlich oder privat nach Westberlin wollte. Ich habe gesagt, dienstlich, das wurde aber auch akzeptiert, ein Stempel 'reingemacht, und ich bin dann nach Westberlin. Am Bildungszentrum der ÖTV in Wannsee habe ich gefragt, Niko Stumpfögger, ob ich denn nicht etwas bekommen könnte an Material, also Personalvertretungsrecht und Sozialrecht, alles, was man haben musste.
Danach bin ich vor meinen Vorstand zitiert worden. Da fragte mein Vorsitzender, ob ich eine eigene Gewerkschaft gründen wolle oder ob meine Truppe irgendwo anders hin gehen wolle. Da hab' ich gesagt, der spinnt. Das war damals überhaupt noch nicht spruchreif, und es ging nur um Informationen.
Da konnte ich nicht ahnen, dass es so schnell geht, aber ich habe gedacht, die Dämme sind gebrochen und es wird garantiert nicht mehr so sein, wie's war. Wir werden von den westdeutschen Gewerkschaften vieles übernehmen, auch rechtlich. Das hat sich auch bestätigt.
Die neue Regierung, aber auch schon die alte, machte ständig neue Gesetze, um die DDR dem System der BRD anzupassen, anzugleichen.
Ich war zu der Zeit schon 44, 45 Jahre alt. Das ist nicht einfach, dass Menschen in eine völlig neue Lebenssituation gestellt wurden, auch die, die die DDR abgelehnt haben. Das war nicht die Mehrheit, das muss man so sagen, die Mehrheit hatte sich angepasst und sich eingerichtet. Aber für sie alle war dieser Umschwung spürbar.
Am Anfang - November, Dezember, auch noch Januar - war das ja alles noch einfach. Im Februar kamen die ersten Westprodukte in die Läden. Als Berliner war das ja sehr einfach, man fuhr 'rüber nach Westberlin und kaufte dort ein.
Wir konnten schon Produkte haben für unser Geld. Das hat man schon gespürt. Aber mit der DDR war es zu Ende, da war nichts mehr aufzuhalten.
Viele dachten, wir machen's zwar anders, wir bauen jetzt ein anderes System auf, aber wir machen's erst mal alleine.
Bis zu den ersten freien Wahlen hatte ich auch diese Einstellung. Allerdings merkte ich dann, durch die vielen Dinge, die sich veränderten, dass es auf Dauer nicht durchhaltbar war. Es war ja chaotisch. Es kamen ständig neue Gesetze.
Ausführende Organe müssen ja überlegen, wie gehen wir damit um. Wir hatten eine völlig neue Führungsmannschaft, die vorher eigentlich nie Führung gehabt hatte in ihrer politischen Funktion, ob das Staatssekretäre waren oder Minister. Aber eines war ja klar: Sie hatten keine Apparaterfahrung.
Das ist immer so, die Intelligenzia des Landes weiß, wie so ein Apparat funktioniert. Nicht viel anders wie in einem anderen System. Der Apparat funktioniert so und so, Beamten haben ihre Grundregeln, wie sie etwas durchsetzen.
Also wenn die Leute, die die Sachen bearbeiten, nicht mitziehen, dann geht das gar nicht. die müssen das ja auch wissen. Es gab dann z. B. Überlegungen, wie man so etwas schulen kann.
Das war alles ein sehr zäher Prozess. Aber das ist wieder das Komische: Es war auch eine so dynamische Zeit, so angehäuft, dass ich auch im Vorfeld auf dieses Gespräch immer versucht habe, mich an Einzelheiten zu entsinnen. Es kommt mir vor wie ein großes Band, sehr farbig, und so schnell, dass ich jetzt manchmal nicht erkenne, war das jetzt rot oder blau. Das war so dynamisch, sich ständig verändernd, dass man die Zeit dazu nicht hatte.
Viele Bürger der DDR wurden von den Ereignissen quasi überrollt und wussten nicht, was auf sie zukommt.
Ich kann mich noch gut entsinnen: Ich habe kurz nach der Wahl in einem Betrieb der NVA eine Rede gehalten auf einer Betriebsversammlung, und darauf hingewiesen, was passieren wird, wenn es denn so kommt. Damals wurde ja schon an einem Anschluss an die BRD gearbeitet, und sie wollten auch "Deutschland, einig Vaterland". Da habe ich gesagt, also gut, das heißt auch Kapitalismus, das heißt auch, wir haben dann all das, was gut ist, aber auch das, was vielleicht nicht so gut ist, nämlich unter anderem auch Arbeitslosigkeit. Damals bin ich deshalb ausgepfiffen worden. Das haben sie nicht verstehen können.
Das ist auch ein Grundsatz vor mir gewesen: Du sagst es den Leuten. Ich habe nie nur die blühenden Wiesen versprochen, auch ahnend, dass es keine geben wird.
Deutsche Einheit heißt, es gibt auch keine Nationale Volksarmee mehr. Aber wir haben dazu gesagt: Ok, es ist so, wie es ist.
Natürlich hatten wir auch Gewerkschaftsaustritte. Das war ein Prozess. der eigentlich mit dem Herbst begann, ein längerer Prozess.
Solche Bewegungen sind in der Regel, wenn sie gegen die Oberen gehen, immer Bewegungen von unten nach oben, nicht von oben nach unten. Das Beharrungsvermögen des FDGB-Bundesvorstands war genau das gleiche wie das des Politbüros der SED.
Das war das gleiche, da hat man nichts gemacht, und hat damit eine große Chance verpasst, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, mit 8 Millionen Gewerkschaftsmitgliedern. Egal wie opportunistisch man in diesem Augenblick gewesen wäre, vielleicht auch mit anderen Leuten. Das kam alles viel zu spät und hatte dadurch den Geruch "Rette sich, wer kann!" Das funktioniert nicht.
Ich habe dann meine Funktion so gesehen: Sie wird endlich sein, denn es gibt dann etwas Anderes im Leben, was, weiß ich nicht. Aber darüber hab' ich nicht nachdenken können, weil soviel Arbeit war.
Die Veränderungen waren auch spürbar, im Rückblick findet man das alles viel genauer. Damals war man das nicht gewohnt, aber man hat es zur Kenntnis genommen.
Gewerkschaftssitzungen zum Beispiel wurden nicht mehr pflichtbewusst besucht, sondern die Leute gingen hin und ließen ihrer Seele freien Lauf. Zwar noch nicht im Frühsommer, aber noch vor dem Mauerfall, es muss im Oktober gewesen sein, konnte man offen gegen die Staatssicherheit reden und dass die Leute zurücktreten müssen. Und das waren Sitzungen von Zivilbeschäftigten der NVA!
Da spürte man oft, und das finde ich so schön, dass es war, als wenn sie durchatmen würden. Ich muss ehrlich sagen, ich habe gedacht, was passiert da jetzt eigentlich? Ich bin ja ein Kind dieser Republik, und ich habe vieles vielleicht auch nicht wahrhaben wollen, was schon war. Es durfte nicht sein, was nicht sein durfte.
Man hat mich schon darauf hin gestoßen, vor allem mein Freundeskreis und der Freundeskreis meiner Frau, da hat es sehr viele Diskussionen gegeben, schon Jahrzehnte davor, aber ich habe mir immer gesagt, da ist ja alleine schon die Idee. Diese Idee fand ich immer so schön und großartig, dass alle Menschen gleich sind, gleich behandelt werden müssen.
Man kann ein System aufgeben, aber nicht eine Vision, nicht das Innere, die linke Gesinnung, den Gerechtigkeitssinn, wie man es nennen will.
Das ärgert mich an manchen Diskussionen: Wessen Gerechtigkeit ist es denn? Ist es die Gerechtigkeit der Deutschen Bank? Oder ist es eine Ethik, die wir als Menschen bestimmen? Welche Werte werden in diesem Land gepflegt? Sind es Werte wie Gesundheit usw. usf.?
Alles soll schlecht gewesen sein in der DDR. Aber man wurde ja gesundheitsversorgt. Wir hatten ein gutes Gesundheitswesen und ein hervorragendes Bildungswesen.
Es ärgert mich heute noch, wenn man vom Umbruch spricht, und vergisst, das gehört doch dazu, dass so viele Dinge, die für uns selbstverständlich waren, dann einfach alle kassiert wurden, einschließlich Rotkäppchen Sekt und Florena Creme.
Zurück zu unserer Gewerkschaft. Vorher war es Pflicht, man war in der Gewerkschaft. Dass dann hier rund zehntausend Leute vom Herbst an bis Juni ausgetreten sind, dann ist das, wenn ich mir andere Organisationen ansehe, vom Prozentsatz her eigentlich wenig.
Viele haben gesagt, Gewerkschaften sind nötig, aber anders.
Nun hier eine Episode, wie Menschen so denken.
Wir haben viel inhaltlich diskutiert, aber es gab auch Ereignisse, an denen die Menschen ihre Meinung festmachen. Unser Vorsitzender bis zum März '90, Helmut Klabunde, war Reservegeneral geworden. Er hatte großen Wert darauf gelegt, und war zui einem Empfang nicht als Zivilist, der er ja eigentlich inzwischen war, sondern in Uniform hingefahren. Das hat vor allem die Gewerkschaftsmitglieder gestört. Wir haben Briefe bekommen, wir sind nicht Militärs, wir sind Zivilbeschäftigte, und wieso rennt er da in dieser Uniform 'rum. Die Menschen haben sich also beschwert. Das ist heute auch noch so. Die Menschen regen sich über solche Dinge auf, und dabei sollten wir es über ganz andere Dinge tun, wie Gehalt oder Arbeitsbedingungen.
Aber es wurde offen polemisiert, und das war ja vorher nicht der Fall. Das Schöne war: Die Leute konnten ja, wenn sie z. B. den Zivilbeschäftigten verboten, Westfernsehen zu gucken, das nicht kontrollieren. Und jetzt konnten alle offen über ihre Informationen sprechen.
ver.di-Archiv: Am 22. Juni habt ihr eine neue Gewerkschaft gegründet. Warum wurde das notwendig, und was war das Neue?
Wolfgang Brunner: Nachdem die DDR nach den freien Wahlen eine neue Regierung hatte, haben wir gesagt, wir müssen uns auch neu aufstellen. Wir können ja nicht mit demselben Apparat weitermachen, der hatte ja gar nicht die Legitimation wie jemand, der in einer neuen Gewerkschaft, mit einer neu gewählten Struktur sich auch getragen fühlen kann von 60 000, 65 000 Mitgliedern.
Wir wussten, eine einheitliche Gewerkschaft ÖTV ist notwendig, und wir werden ein Teil davon. Darum haben wir natürlich die Satzung der ÖTV genommen, der West-ÖTV. Wir haben uns das angeguckt und haben uns im Wesentlichen an der Satzung der ÖTV orientiert, das muss man eindeutig so sagen, auch dass schon im Vorfeld bestimmte Dinge vorweggenommen wurden.
Der erste offizielle Kontakt mit der ÖTV war im Frühjahr, und im Juni, schon vor dem Gewerkschaftstag, hatten wir sehr intensiven Kontakt mit der ÖTV, mit Heinrich Linden, Klaus Engel und anderen, die uns sehr geholfen haben in der Vorbereitung unserer neuen Satzung usw. Diese Verbindung ist sehr eng geblieben.
Darüber ist auf dem Gewerkschaftstag dann auch diskutiert worden, und dann wurde die Wahl durchgeführt. Der Hauptgrund war: Es muss eine neue Mannschaft gewählt werden, von unten nach oben, so dass die Mitglieder und Delegierten ihren Willen kundtun, wir wollen dies, wir wollen jenes, und das ist zum Schluss dann auch so gemacht worden.
Es waren auch Kollegen von der ÖTV auf unserem Gewerkschaftstag dabei.
ver.di-Archiv: Und wenige Tage vorher ist die ÖTV der DDR gegründet worden. Wie war denn die Zusammenarbeit eurer Organisation mit dieser Organisation, und wie hast du selber zu ihr gestanden? Warst du Mitglied?
Wolfgang Brunner: Nein. Das haben wir lange überlegt. Gehen wie da 'rein? Dazu hätten wir ehrlicherweise auch unsere Mitglieder befragen müssen: Wollen wir uns der neu gegründeten Organisation anschließen?
Es gab unter den Einzelgewerkschaften der DDR in der Regel schon lange gute Beziehungen zu den entsprechenden Gewerkschaften in der BRD. Unser Partner war die ÖTV West. Und da haben wir gesagt, wenn es wirklich so kommt, dass wir uns auflösen und eine einzige Gewerkschaft bilden, dann nehmen wir das Original, und dann werden wir alle Mitglieder bitten, in diese Gewerkschaft einzutreten. Punkt. Aus. Feierabend.
Die wissen, wie's geht, die haben ihre Mannschaft, und bei uns endet's. So knallhart waren wir. Klar haben wir gesagt, wenn die DDR geht, und das war im Juni klar, es geht auf die deutsche Einheit hin, dann sind wir weg, dann ist die Gewerkschaft weg, und es gibt dann auch nicht mehr diese ÖTV der DDR. Aber Bernd Nickel war auf ihrer Gründungskonferenz als Gast, das weiß ich.
Ich selber habe gesagt, warum soll ich Mitglied werden, ich bin in meiner Gewerkschaft, und da bleibe ich auch, ich will in dieser Gewerkschaft Mitglied sein. Und ich hab' dann eher, wie andere auch, Wert darauf gelegt, mit der ÖTV alle Wege abzuklopfen, wie es jetzt mit der deutschen Einheit weitergeht und wie wir unsere Mitglieder in die gemeinsame Gewerkschaft ÖTV einbringen können.
Und ich muss sagen, wenn man sich die Zahlen mal anguckt : Bestimmt 90 Prozent unserer Mitglieder haben ihren Antrag damals abgegeben.
ver.di-Archiv: Wie war das überhaupt mit dem Übergang von eurer Gewerkschaft zur ÖTV? Mussten die Mitglieder ihre Mitgliedschaft in der ÖTV einzeln beantragen? Es gab da ja sehr unterschiedliche Modelle der DGB-Gewerkschaften und der DAG.
Wolfgang Brunner: Das haben wir lange diskutiert. Wir sind in Stuttgart gewesen und haben dort mit dem stellvertretenden Vorsitzenden Willi Mück und auch anderen viele Gespräche geführt
Wir haben nach dem Prinzip gehandelt, wie nach dem Krieg "Ein Betrieb - eine Gewerkschaft". Wir haben unseren Mitgliedern nicht gesagt, geht in die ÖTV in der DDR (das war ja bekannt) , geht 'rüber, sondern wir haben gesagt, wir machen die Tarifverträge und die Bedingungen für euch, wir sind von euch gewählt, und wenn die deutsche Einheit kommt, und die NVA, wie auch immer, aufgelöst wird, vielleicht werden Teile übernommen, dann bitten wir euch - das haben wir gesagt - , dann bitten wir euch alle, mit Antrag in die ÖTV zu gehen.
Das haben wir offiziell gemacht und dafür geworben, nach unserer Auflösung im Oktober in die ÖTV einzutreten. Und das haben dann auch viele gemacht. Viele sind ja auch arbeitslos geworden. Die meisten aber haben, das weiß ich, noch vor unserem Kongress die Anträge ausgefüllt, wir haben sie ja gehabt. Dafür waren dann die Gliederungen zuständig, bis 'runter in die Betriebe, dass alles verteilt wird.
Wir haben eine Begegnung in Berlin gehabt mit dem Verbindungsbüro der ÖTV, um zu klären, wie wir es jetzt machen, und wir waren, also ich persönlich auch, klare Verfechter der Haltung, dass diese unsere Gewerkschaft bleibt. Sie wird sich auflösen, das war klar, das werden wir auf unserem Schlussgewerkschaftstag machen, aber wir sagen nicht "Geht in die ÖTV in der DDR", denn dann ist eh das Original da. Warum soll ich jetzt den Zwischenschritt machen, in eine neue ÖTV in der DDR zu gehen, um dann darein zu gehen. Dann kann ich es auch gleich richtig machen.
ver.di-Archiv: Ist denn dann - aus deiner Sicht - die Gründung der ÖTV in der DDR ein nicht unbedingt notwendiger Schritt gewesen? Oder hat es einzelnen Leuten doch etwas gebracht? Zum Beispiel solchen, die nicht mehr in eurer Gewerkschaft waren?
Wolfgang Brunner: Ich kann nicht sagen, ob von denen, die bei uns ausgetreten sind, irgendeiner in die ÖTV in der DDR gegangen ist. Das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist eher wahrscheinlich, dass die meisten, die 'rausgegangen sind, nie wieder 'rein sind. Und heute noch nicht 'reingehen. Im Osten haben wir nach wie vor Probleme, für die Gewerkschaften intensiv zu werben und Mitglieder zu bekommen. Das ist immer noch eine Folgeerscheinung aus der Zeit der Wende.
Nein, ich maße mir nicht an zu sagen, ob das nötig war. Dann könnte ich auch sagen: War es nötig, eine Gewerkschaft der Offiziere der NVA zu gründen? Und sie hat sich gegründet.
Ist es nötig, dass es heute Cockpit gibt, ist es nötig, dass es die Lokführergewerkschaft gibt? Es gibt sie!
Und so gab es auch diese Gründungen, und es gab sicher auch Gründe dafür. Ich denke, dass der Antrieb eher aus den Mitarbeitern des Staatsapparates kam, die im MSK waren, Ministerium für Staatsapparat und Kommunales, also aus den Verwaltungen der Städte, Bezirke usw usf., die sich in dieser Gewerkschaft nicht so wiedergefunden haben.
Die Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten war wie eine Branchengewerkschaft, wie die Postgewerkschaft. Es waren alles Zivilbeschäftigte. Sie hatten zwar unterschiedliche Berufe, aber das Gemeinsame war: Sie arbeiteten als Zivilbeschäftigte.
Bei MSK war das schon ein bisschen anders, das ging vom Bestattungswesen bis zum Dachdecker, und dann im kommunalen Bereich. Ich denke mal, dafür war es vielleicht gar nicht so verkehrt, eine Gegenmacht aufzubauen für eine solche kurze Zeit, und insofern hat es das auch historisch gegeben, für eine kurze Übergangszeit.
Wir aber haben gesagt, wir machen das nicht. Wir haben damals, ob das die Gewerkschaft Wissenschaft war, die Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten oder Gesundheitswesen, die ja dann alle im öffentlichen Dienst waren, wir haben gesagt, wir treten dann alle gleich in die ÖTV über. Und das ist dann in der Masse so passiert.
Damals in Konkurrenz zur DAG . Meine Frau war Oberschwester in einer Poliklinik und einige Schwestern waren in der DAG. Ich habe dann zu meiner Frau gesagt: "Wenn du auch nur einen Schritt machst in die Richtung… Das ist doch klar, wir gehen in die ÖTV." Diese Diskussionen gingen ja bis in die Familien.
Also: Die ÖTV in der DDR war ein Fakt, der historisch geschehen ist, er hat aber keinerlei Bedeutung für die spätere gewerkschaftliche Arbeit gehabt. Auch nicht für die Masse der Leute, die ja noch im FDGB organisiert waren, in den Einzelgewerkschaften. Es spielte sich alles noch in dieser Struktur ab, und da gab's dann außerdem noch die ÖTV in der DDR.
ver.di-Archiv: Tarifvereinbarungen habt ihr zusammen mit der ÖTV in der DDR und der ÖTV der BRD abgeschlossen?
Wolfgang Brunner: Die ersten, die einzigen Tarifverhandlungen waren im September 1990 - ich war mit dabei - im Haus des Ministerrates. Es waren alle Gewerkschaften, die mit öffentlichem Dienst zu tun hatten, auch die ÖTV in der DDR, da. Als Gleichberechtigte. Wir haben dann dem Ergebnis zugestimmt, es gab damals 200 DM für jeden.
Das waren meine ersten Tarifverhandlungen, die ich mitmachen durfte, und da habe ich schon Erfahrungen gesammelt.
ver.di-Archiv: Auf dem 2. Gewerkschaftstag am 2. Oktober habt ihr die Auflösung mit sofortiger Wirkung beschlossen. Wie war das für dich?
Wolfgang Brunner: Ich bin am 2. Oktober abgemeldet worden und habe dann mit Kollegen aus der ÖTV, die dabei waren, noch etwas getrunken und geredet. Eigentlich waren wir froh. Auch ein bisschen traurig. Wir wussten, das war's jetzt. Es war eine tolle Zeit.
Ich habe mich von den Kollegen verabschiedet. Und wir wussten alle, dass wir jetzt noch ein bisschen Urlaub machen, bezahlt wurden wir bis Monatsende, und dass wir dann alle arbeitslos sind, alle, die hauptamtlich tätig waren.
Ich bin dann über den Platz gegangen, es war am Abend vor dem 3. Oktober, mit gemischten Gefühlen. Es war ja doch ein Abschied mit der Maßgabe, so genau weiß man nicht, was wird. Nicht mit Ängsten, das auf keinen Fall. Das wäre falsch, wir waren nicht mit Ängsten besetzt. Ich bin schon immer ein optimistischer Mensch gewesen.
Aber ein großer Lebensabschnitt war vorbei. Ich wusste, dieser Abschnitt war definitiv zu Ende.
Ich hatte da schon meine Bewerbung auf Wunsch der ÖTV abgegeben und wartete dann. Aber ich war erst einmal, wie alle anderen, ab 1. November arbeitslos.
Das hat sich bei mir tief eingeprägt, diese beiden Ereignisse, die Auflösung unserer Gewerkschaft und die anschließend bewusst wahrgenommene Sache "Du bist jetzt arbeitslos", mehr eingeprägt als der Tag der deutschen Einheit. Das muss ich ehrlich zugeben. Das war für mich nur eine Feier, und wir wussten ja, dass es so kommt, das war ja nicht neu. Die Währung war umgestellt, es war alles schon vorbereitet.
Der formale Akt an sich war anders, und bei mir immer noch mit dieser Skepsis begleitet, die sich ja bestätigt hat. Die Frage, das wird alles ganz anders, und viele Menschen werden dann mal schauen.
Ich habe im Sommer '90 schon Gespräche mit Westdeutschen geführt und gesagt, ich wünsche mir ja nur eins, dass es in Deutschland nicht so wird wie in allen anderen Ländern: Man hält sich eine arme Region. So wie früher die Amerikaner den Süden der USA, wie Italien mit Sizilien, wie Spanien mit dem Süden. Die Antwort war: "Nein, nie im Leben!"
Ich hab gesagt, ich glaub's euch ja, aber viel Hoffnung habe ich nicht. Dazu kannte ich die DDR zu gut, und kannte viel zu viele in diesem ganzen Abwicklungsprozess der deutschen Industrie. Wir wussten ja, da treffen zwei Volkswirtschaften aufeinander, wie gut oder wie schlecht sie auch sind.
Die DDR war eine hoch produktive Wirtschaft, die Seewirtschaft z. B. Aber es gab auch im Westen eine Schiffsindustrie. Und wer wird denn nun wen übernehmen?
Wir haben zwei Schwerindustrien, Stahlwerke. Wie viel Stahlwerke sind denn geblieben?
Das war uns schon klar, da ist der Wettbewerb und da wird keine Konkurrenz zugelassen. Insofern war ich da sehr skeptisch.
ver.di-Archiv: Wann hast du dann angefangen bei der ÖTV?
Wolfgang Brunner: Ich war arbeitslos bis Februar. Dann habe ich angefangen. Nun gut, das muss man verstehen. Erst wurde geguckt, ob wir verstrickt waren mit dem System, mit der Stasi, und wie tief wir verstrickt waren, das ist ja alles in Ordnung, das respektiere ich auch. Das hat ein Vierteljahr gedauert. Aber dann ging es ganz schnell.
Ich muss noch sagen, als ich arbeitslos geworden war, habe ich mich gefragt, was machst du jetzt. Eigentlich konnten wir von dem Arbeitslosengeld ganz gut leben, zumal wir ja auch noch zum Teil die alten Preise hatten.
Aber ich hab' mir gedacht, das ist nicht meine Art. Ich bin dann zur HWP nach Hamburg und habe angefangen, BWL zu studieren. Ich habe mir gesagt, als Diplomgesellschaftswissenschaftler, der ich in der DDR ja war, damit wirst du im Westen nicht große Lorbeeren ernten, also was machst du jetzt. Mein Grundberuf, den ich mal gelernt hatte, war Maurer. Aber mit 45 Jahren auf den Bau zu gehen, das ging nicht. Und dann hab ich hin- und her überlegt. Und da hat meine Frau gesagt: "Mach doch das, was du kannst." Mit dieser Frage hat sie mir sehr geholfen.
Darum hab' ich mit dem Studium begonnen, neben lauter Akademikern. Das Studium brachte mir auch den Vorteil, dass ein Teilbereich Rechtswissenschaft war, Wirtschaftsrecht, bürgerliches Recht. Als ich dann im Februar zur ÖTV geholt wurde, hatte ich schon ein paar Vorlesungen über bürgerliches Recht gehabt, über Handelsrecht und Wirtschaftsrecht. Das hat mir natürlich sehr geholfen.
ver.di-Archiv: Gibt es jetzt noch einen Bereich, den wir nicht angesprochen haben, der dir aber sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang?
Wolfgang Brunner: Zwei Sachen sind mir sehr wichtig.
Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund war bis weit über die Wende hinaus, insgesamt gesehen, eine in das System eingeordnete Organisation, die der Partei unterstand und in ihrer Selbständigkeit sehr begrenzt war. Wir hatten die Sozialsysteme, also die Sozialversicherung, den Feriendienst, und eine gewisse Gestaltung bestimmter Prozesse, bis hin zur Rente. Wir hatten Initiativrechte, aber das musste immer abgesegnet werden.
Dieser Prozess der Änderung ist dann sehr, sehr schwer gewesen, zu einer neuen Denkweise, zum Herausfiltern: Ich bin selbständig. Und das, glaube ich, ist eine Sache, warum wir immer noch in den neuen Ländern oder Ostländern - neue Länder nach 20 Jahren! - , Probleme haben mit der Ansprache der Menschen. Denn sie sind geprägt von der Vorstellung: "Jetzt bin ich drinne, zahle meinen Beitrag, und krieg nicht einmal einen Ferienplatz."
Diese Änderung der Denkweise, dass freie Gewerkschaften so notwendig sind auf einem immer härter werdenden Arbeitsmarkt, das trifft sie nicht.
Da hätte ich mir damals, bei allen organisatorischen Schwierigkeiten, mehr Sensibilität gewünscht. Es ist 89/90 versäumt worden, von den Westgewerkschaften, nicht nur in die Verhandlungen zu gehen, sondern auch in die Versammlungen und in die Betriebe zu gehen. Um die Leute davon zu überzeugen: "Bleibt in den Gewerkschaften!"
Das ist ein Fehler, den man gemacht hat. Wir haben das oft angemahnt.
Derselbe Fehler, den wir bei der Gründung von ver.di gemacht haben. Wir wussten, dass ein Umgestaltungsprozess, ein Verschmelzen verschiedene Gewerkschaften, dazu führt, dass Menschen an der Basis unterschiedliche Gewohnheiten haben. Deshalb brauchen wir genügend Man- und Womanpower, genügend Menschen, die mit Menschen darüber reden. Das kann ich zehnmal aufschreiben, das kann ich gar nicht oft genug sagen. Ich muss mit Mitgliedern reden. Und das haben wir versäumt, und darunter leiden wir immer noch. Das sind Fehler, die wir gemacht haben.
Das sind Erfahrungen, die ich 89/90 gemacht habe, und die sich 2000/2001 wiederholt haben.
Die zweite Sache ist: Es gab zurückhaltende Erwartungen an dieses neue Deutschland, aber es gab auch Wünsche, und man dachte, vielleicht gelingt es doch, - also das war sehr bedingt -, das eine oder andere mit 'rüberzunehmen. Das eine war das Arbeitsrecht der DDR.
Lassen wir mal den ganzen Krempel von Ideologie und Sozialismus weg. Ich sag immer, wenn man Mus weglässt, dann bleibt bei dem einen sozial und bei dem anderen Kapital übrig.
Aber es hatte damals keiner ein Interesse daran, das Recht der Arbeiter in den Betrieben, das Recht auf Arbeit in dem Maße zu stärken, wie es in diesem Gesetz festgeschrieben war. Aber man hätte ja trotzdem drüber nachdenken können.
Das zweite ist das Bildungssystem. Das sind so wichtige Fragen: Wie geht man mit Menschen um, die mit der 8. Klasse aufhören, wie können die gefördert werden? Halte ich Berufsbilder vor, die auch ohne Mittlere Reife machbar sind? Auch da muss man mal mehr drüber nachdenken.
Das System der Bildung der DDR war gut. Schülerinnen und Schüler hatten die Möglichkeit, sich mit der 8. Klasse zu entscheiden: Mittlere Reife oder Abitur. Und nicht bereits eine Festlegung ab der 3. Klasse. Das halte ich für zu früh. Gute Schülerinnen und Schüler hatten auch noch, mit dem Weg Berufsausbildung und Abitur, die Möglichkeit, sich nach der 10. Klasse zu entscheiden.
Und das dritte ist das Gesundheitswesen, die Struktur des Gesundheitswesens. Ich habe einmal provokativ gefragt: Warum zahle ich nicht jedem Arzt acht- oder zehntausend Euro im Monat Gehalt von der Kasse, unabhängig von der Anzahl der Patienten. Dann kann ich immer noch gucken, wie viele niedergelassene Ärzte wir denn brauchen, wie viele Allgemeinärzte. Dann kann ich immer noch einen Bonus verteilen an die, die besonders gut sind.
Man kann das größtenteils in eingerichteten Polikliniken organisieren. Heute nennt man das Ärztehäuser. Da kann viel Geld gespart werden, wenn nicht immer alle teuren Untersuchungen noch 'mal gemacht werden und die Ärzte besser zusammenarbeiten, so wie das in der DDR in den Polikliniken war.
Das sind drei kleine Dinge, wo ich mir gedacht hätte, das wäre besser. Das sind drei Dinge, wo ich mir gesagt hatte, warum hat man, verdammt noch mal, das nicht getan.