1989 war Sabine Lange stellvertretende Leiterin eines Kindergartens in Karl-Marx-Stadt, das heute (wieder) Chemnitz heißt. Zwanzig Jahre später, im November 2009, ist sie stellvertretende Landesvorsitzende des ver.di-Landesbezirks Sachsen/Sachsen-Anhalt/Thüringen.
„Jetzt kann ich überallhin.“ Das war ihr erster Gedanke, als sie hörte, dass die Mauer gefallen war. Am nächsten Morgen holte sie den Sohn aus der Schule, da saßen nur noch wenige. Sie fuhren nach Berlin, zum Grenzübergang Sonnenallee. Sie sagt heute: „Ich kriege Gänsehaut, wenn ich mich daran erinnere.“
Sabine Lange ist 51, geschieden, zwei Kinder. Auf ihrem Schreibtisch stehen Fotos der drei Enkel. Seit einem halben Jahr ist die Frau mit dem feuerroten Haar stellvertretende ver.di-Landesleiterin für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Seitdem lebt sie in Leipzig. Noch mal ein Aufbruch: „Nicht ohne meine Gewerkschaft. Gerade nach diesem Wahlergebnis ist ver.di wichtig, als politische Kraft.“
Vor dem Neustart war Sabine Lange 19 Jahre Personalratsvorsitzende in Chemnitz, früher Karl-Marx-Stadt. Geboren ist sie in Dresden. Sie zog mit Eltern und Schwestern nach Karl-Marx-Stadt, studierte an der Fachschule und ergriff ihren Traumberuf, Kindergärtnerin. 1976 fing sie in einem Kindergarten an, mit dem ersten Gehaltszettel über 300 Mark und der Verantwortung für 21 Kinder. Die Leiterin machte wenig politischen Druck. So fiel das „Parteilehrjahr“, die immer montags stattfindende politische Versammlung, vor Weihnachten aus. Doch auch in diesem Kindergarten war der 1. März Thema, der „Tag der Nationalen Volksarmee“. „Aber Spielzeuggewehre hatte ich nie“, sagt Sabine Lange. Was sie störte, war die Regelsucht: Alle Kinder gleichzeitig zur Toilette führen, alle gleichzeitig zum Basteln bringen. An ihrem Sohn sah sie, dass das falsch ist.
1986 wurde sie stellvertretende Leiterin. Trotzdem konnte sie ihren Mund nicht halten. Dass es neue Gesetze für Familien mit drei Kindern gab, aber nichts für alte Menschen getan wurde, kritisierte sie. Dass in Kindergärten Drei- und Vierjährigen von Erich Honecker erzählt wurde, fand sie falsch. Es kam vieles zusammen. Die DDR zu verlassen kam trotzdem nicht in Frage. „Meine Eltern brauchten mich“, sagt sie. So blieb sie. Doch 1987 trat sie aus der Partei aus, schickte das Mitgliedsbuch zurück. Mutig, aber mit einer Kollegin zusammen, das war leichter. Zwei Jahre später gab es auch in Karl-Marx-Stadt Montagsdemos. Sabine Lange ging mit, ohne Angst: „Wir waren viele, da fühlst du dich stark.“ Sie war froh, dass es mit der DDR zu Ende ging.
Im Winter 89/90 wurde alles anders. Auch in den Kindergärten. Die sollten in Sachsen nicht mehr zur Volksbildung gehören. Debatten kamen auf, ein Gefühl von Rückschritt: „Pflege statt Bildung? Wir protestierten, sammelten Unterschriften, standen bei Biedenkopf im Büro.“ 1990 trat Sabine Lange in die Gewerkschaft ein. Etwas Neues für sie, genau besehen. Zwar war sie in der DDR im FDGB gewesen, aber das hatte nur bedeutet, dass Urlaubsplätze verteilt wurden, von denen sie nie einen bekam. Jetzt ging es um mehr. Es war nötig, mit anderen zusammenzustehen, wie bei den Montagsdemos, fand Sabine Lange. Kollegen aus dem Westen erklärten ihr, was ein Personalrat ist. Sie fühlte sich nicht bevormundet, sie brauchte Tipps. Schon im Oktober 1990 wurde sie Personalratsvorsitzende beim Jugendamt, zuständig für Kindergärten, Heime und Freizeiteinrichtungen. Wenn sie das erzählt, klingt Staunen mit. „Wahnsinn“, das Wort der Wendezeit passt.
Zu zweit zogen sie als Personalrat in ein Büro mit einer Schreibmaschine. Stifte brachten sie von zu Hause mit. Dann rollten die ersten Abbauwellen. Freizeiteinrichtungen, Heime und Kindergärten wurden geschlossen. Und was sind eigentlich freie Träger? So fing es an.
Sabine Lange blieb Personalratsvorsitzende. Den Kampf vom Anfang hatten sie verloren; Krippen und Kindergärten gehörten jetzt zum Jugendamt. Es ging weiter mit Entlassungen. Einmal hatten sie an einem Tag 464 Kündigungen auf dem Tisch. Mit jeder einzelnen Frau sprach der Personalrat, lehnte jede Kündigung ab und begründete das, ohne Ahnung, wie das geht. Sie lernten es, von Gewerkschaftern und Rechtsschutzsekretären. Sabine Lange sagt: „Ohne die Hilfe kannst du dir als Personalrat gleich `nen Giftpilz nehmen.“ Gerade noch rechtzeitig schlossen sie mit der Stadt eine Dienstvereinbarung ab und reduzierten die Arbeitszeit auf 30 Stunden. Alle Betroffenen akzeptierten, keine musste gehen.
Ein Jahr später wurde Sabine Lange Vorsitzende des Gesamtpersonalrats für Chemnitz. Ihr Anspruch war immer, ver.di-Personalrat zu sein. „Rigoros.“