Text von Uwe Fuhrmann, gelesen von Anne Helm
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Text von Uwe Fuhrmann,
gelesen von Anne Helm
Gelesen von Rena Hasselmann
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gelesen von Dr. Rena Haßelmann
DIE ERSTE VORSITZENDE EINER GEWERKSCHAFT
Paula Thiede wird am 6. Januar 1870 in Berlin als Pauline Philippine Auguste Berlin geboren. Als Kind einer Arbeiterfamilie wächst sie am südlichen Rand des Berliner Zeitungsviertels auf, heute Hallesches Tor.
Mit 14 Jahren beginnt Paula Thiede als Anlegerin im Buchdruck zu arbeiten und im Takt der Maschinen große Papierbögen in Schnellpressen einzulegen. Sie heiratet 1889. Als sie 1891 zum zweiten Mal schwanger ist, stirbt ihr Ehemann. Paula Thiede erlebt bittere Armut und verliert ihr zweites Kind.
Sie schließt sich dem Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpressen an. In dieser Frauengewerkschaft übernimmt Paula Thiede schnell wichtige Funktionen.
1898 wird der gemischtgeschlechtliche und reichsweite Verband der Buchdruckerei-Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen Deutschlands gegründet, Paula Thiede wird zur Vorsitzenden gewählt.
Der Verband, ein Vorläufer der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, feiert große Erfolge, auch weil er die Interessen seiner weiblichen Mitglieder kennt und offensiv vertritt.
Paula Thiede streitet auch für das Frauenwahlrecht. Als Gewerkschaftsdelegierte stimmt sie bei der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen 1910 dafür, den Weltfrauentag ins Leben zu rufen. Beim ersten Frauentag 1911 fordert sie vor Tausenden von Zuhörerinnen in Berlin:
»Gebt uns unsere Menschenrechte, gebt uns das Wahlrecht!«
Mit den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung erfüllt sich diese Forderung am 19. Januar 1919: Paula Thiede kann, bereits schwer erkrankt, zum ersten Mal wählen. Sie stirbt am 3. März 1919.
Die Gewerkschaft ver.di sieht sich in der Tradition von Paula Thiede und hat sich deshalb für sie als Namensgeberin der Adresse ihrer Bundesverwaltung eingesetzt.
THE FIRST EVER FEMALE CHAIR OF A TRADE UNION
Paula Thiede was born in Berlin on January 6, 1870 and grew up in a working class family.
At the age of 14 she started to work as an auxiliary labourer in a printing company. She married in 1889 and had two children, but her husband died two years later, leaving her in abject poverty.
Paula Thiede was an active member of the local female union for the printing industry.
When the women‘s and men‘s unions merged in 1898 and widened their field of organization to cover the entire country, she was elected chairwoman – making her probably the first ever female in the world to lead a mixed gender trade union.
Women's suffrage was also a matter close to her heart, and Paula Thiede helped set up International Women's Day at the International Socialist Women's Conference in Copenhagen in 1910.
In 1918 women in Germany were finally given the right to vote. Paula Thiede had the opportunity to take part in the first elections of the Weimar Republic in January 1919, but died a few weeks later on March 3.
Her union erected a monument to her in the cemetery at Berlin-Friedrichsfelde (see photo).
Solidarität, Organ des Verbandes der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und –Arbeiterinnen Deutschlands. Berlin, den 18. März 1911
Die Bedeutung des Frauen-Wahlrechts für die Arbeiterinnen des graphischen Gewerbes
Anläßlich des ersten sozialdemokratischen Frauentages am 19. März, an dem die proletarischen Frauen und Mädchen an allen Orten Deutschlands und Oesterreichs für die Erringung der ihnen bis heute vorenthaltenen Rechte in Staat und Kommune machtvoll demonstrieren werden, hat die Redaktion der „Gleichheit“ unter dem Titel „Frauenwahlrecht“ eine Sondernummer zur Ausgabe gebracht, die wir allen unseren Kolleginnen und Leserinnen zur Anschaffung und Beachtung empfehlen.
Eine Reihe in der Arbeiterbewegung hervorragend tätiger Genossen und Genossinnen beleuchten darin von verschiedenen Seiten den Befreiungskampf der arbeitenden Frau und auch unsere Verbandsverantwortliche hat unter obigem Titel in folgendem Beitrag zum Frauenwahlrecht Stellung genommen. Kollegin Thiede schreibt:
„Zu den Berufsgebieten, die viel mit Frauenarbeit zu rechnen haben, gehört auch daß graphische Gewerbe. Mit Rührigkeit und Begeisterung haben sich die graphischen Arbeiterinnen von jeher an dem Aufbau ihrer Organisation beteiligt. Sie sind an manchen Orten heute noch die alleinigen Organisationsträger, und in verschiedenen Städten beteiligen sie sich an den Verwaltungsarbeiten auf vorgerücktem Posten mit Umsicht und Zuverlässigkeit. Der Posten eines ersten Verbandsverantwortlichen wird seit der Gründung einer zentralisierten Organisation durch eine Frau verwaltet, von den mehr als 15 000 Mitglieder stellen die Arbeiterinnen über 9000. In fast allen der 72 Zahlstellen gehören Arbeiterinnen den Ortsverwaltungen an, und in 14 von ihnen sind Arbeiterinnen als Kassiererinnen gewählt worden. Die Zahlstelle Berlin mit ihren mehr als 5000 Mitgliedern hat als zweiten Vorsitzenden und als zweiten Kassierer je eine Arbeiterin angestellt. In München mit mehr als 1400 Mitgliedern und in Stuttgart mit über 100 Mitgliedern ruht der Posten der Kassierer schon seit Jahren in den Händen von Arbeiterinnen. Arbeiterinnen amtieren in fünf Zahlstellen als Vorstehende.
Die rege Mitarbeit der Arbeiterinnen hat der gesamten Arbeiterschaft des Gewerbes recht bedeutende wirtschaftliche Erfolge gebracht. Nachdem es gelungen war, eine gute straffe Organisation zu schaffen und zu festigen, setzte ein unablässiger Kleinkrieg es durch, daß die Zeiten ununterbrochener Kleinkämpfe durch Tarifabschlüsse abgelöst wurden. Daß schon seit vielen Jahren festgefügte und durchgebildete Tarifverhältnis der Buchdrucker war dafür die Grundlage.
Wie in der Organisationsarbeit, so stehen die Arbeiterinnen im graphischen Gewerbe nun auch als Tarifkontrahenten mit in dem Vordergrund. In den Schiedsgerichten und im Tarifamt sind sie vertreten. Durch Umsicht und Sachlichkeit haben sie in diesen Institutionen gemeinsam mit ihren Kollegen viele entstandene Schwierigkeiten und falsche Auslegungen der Tarife klären und beseitigen helfen. Es gibt Tariforte, wo durch die Wahl eines unparteiischen Vorsitzenden die Urteile der Schiedsgerichte Rechtsfähigkeit erlangen, also vollstreckbar werden, und in diesen Schiedsgerichten sitzen ebenfalls Arbeiterinnen. Daß Gewerberichte oft, sogar fast immer bei Berufungen die Urteile von Tarifschiedsgerichten bestätigen, ist bekannt: ob Arbeiterinnen in diesen Schiedsgerichten sitzen und bei den Urteilen mitgewirkt haben, danach wird nicht gefragt.
Wenn diese Arbeiterinnen, worunter sich viele verheiratete Frauen befinden, durch ihre rege Mitarbeit die wirtschaftlichen Verhältnisse für Tausende ihrer Berufsgenossen und Berufsgenossinnen bessern helfen, wenn sie taktvolle und zuverlässige Tarifkontrahenten und auch Schiedsgerichtsmitglieder sind, warum wird ihnen und allen ihren Geschlechtsgenossinnen das aktive und passive Wahlrecht zu den Gewerberichten nicht gegeben?
Warum wird ihnen als Erwerbenden, als Hausfrauen und Müttern das kommunale Wahlrecht vorenthalten?
Warum wird ihnen als Steuerzahlenden das Wahlrecht zu den Parlamenten verweigert?
Es gibt für diese Entrechtung keinen stichhaltigen Grund, keinen außer der Ausrede, daß die Frauen seit je rechtlos gewesen sind. Diese Ausrede – die nicht einmal für alle Zeiten und Völkerschaften gilt – darf in den Tagen ausgedehnter Frauenarbeit nicht mehr gelten. Energischer als bisher müssen die Frauen und Mädchen das Wahlrecht fordern.
Darum, Arbeiterinnen des Buch- und Steindruckgewerbes, tretet ein in die Reihen derjenigen, die das aktive und passive Wahlrecht zu den Parlamenten, den kommunalen und den gewerblichen Körperschaften auch für die Frauen und Mädchen fordern, stimmt mit ein in den Ruf: Gebt uns unser Menschenrecht, gebt uns das Wahlrecht!“
"Als Paula Berlin 1889 heiratete, war sie noch keine zwanzig Jahre alt, doch bereits wenige Wochen später kam ihr erstes Kind zur Welt. Emma Pauline Elisabeth Fehlberg wurde am 30. Dezember in der ehelichen Wohnung in der Dieffenbachstraße 31 in Berlin geboren. Ein Jahr später war bereits das zweite gemeinsame Kind unterwegs. Doch wenige Wochen vor der Geburt, am 23. März 1891, erlag ihr Mann im städtischen Krankenhaus am Urban einem „kurzem, aber schwerem Leiden“. Rudolf Fehlberg war somit keine 31 Jahre alt geworden und teilte das Schicksal eines frühen Todes mit zahlreichen Berufsgenossen.
Innerhalb weniger Wochen hatte sich durch den Tod ihres Ehemannes die Lebensrealität der nun 21-jährigen Frau Berlin dramatisch gewandelt. Das gesamte Familieneinkommen fiel aus, hochschwanger musste sie „ihre Erwerbsarbeit wieder aufnehmen“. Am 2. Mai kam mit Hilfe einer Hebamme aus der Nachbarschaft schließlich das zweite Kind, ein Junge namens Richard Adolf Martin Fehlberg zur Welt – wie ihr erstes Kind eine Hausgeburt. Durch das Wochenbett und die Fürsorgepflichten für ihr Baby sowie für die eineinhalbjährige Emma stand Frau Berlin plötzlich alleinerziehend und ohne Einkommen da. Keine Versicherung, keine Unterstützung einer Gewerkschaft und erst recht keine staatliche Fürsorge sprangen ein. Auch von ihrer Familie war keine Unterstützung zu erwarten: Ihr Vater war zuletzt in Altona gesehen worden und bereits tot, ihre Mutter schien keine Hilfe zu sein und ihre Schwester war kurz zuvor samt Familie in das 400 km entfernte Neustadt in Oberschlesien (heute Prudnik), den Geburtsort ihres Mannes gezogen.
Es folgte der Auszug aus der Kreuzberger Dieffenbachstraße und der Umzug in den Norden, genauer in die Chausseestraße 10 II (= zweiter Stock) in der Oranienburger Vorstadt. Das war weit entfernt von ihren KollegInnen im Zeitungsviertel und ihren sozialen Bezügen in der alten Heimat. Gegenüber ihrer neuen Adresse, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof befinden sich heute die Gräber von Helene Weigel, Bertolt Brecht, Christa Wolf und vielen anderen bekannten Persönlichkeiten der linken Geschichte. Doch die Gegend war nicht für idyllische Gräber bekannt, als Frau Berlin hier Quartier bezog.
Eisengießereien und Dampfmaschinen hatten der Chausseestraße, damals vor den Mauern der Stadt, zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum preußischen Industriegebiet ersten Ranges verholfen: Hier produzierten Egells und Borsig Maschinen und gossen Eisen; hier wurden die Firmen Schering und AEG gegründet. Der nächtliche Widerschein der Feuer, die für die Metallverarbeitung gebraucht wurden, ließ den nie verlegenen Berliner Volksmund die Gegend „Feuerland“ nennen. (…)
Doch die Stadt und der Platzbedarf der Industrie wuchsen, und 1890/91 wichen auch diese Industrieanlagen. In dem Maße, wie sich die Produktionsstätten im südlichsten Block der Chausseestraße in den Berliner Norden verlagerten, entstanden auf den freigewordenen Flächen die für Berlin typischen vielgeschossigen Mietshäuser, die den angrenzenden Teil der Chausseestraße bereits prägten. Viele dieser Mietskasernen gelten heute als Baudenkmäler, doch damals regierte das Elend. (…)
In einen der gerade fertiggestellten Neubauten, Chausseestraße 10, inmitten der Mischung von Resten der Schwerindustrie, Handwerk und entstehenden Mietshäusern zog Frau Berlin nach dem Tod ihres Mannes und der Geburt ihres zweiten Kindes ein.
Die Möglichkeit des mietfreien Wohnens in der Chausseestraße, wo die Häuser in den Monaten errichtet wurden, als Frau Berlin mit ihrem Mann zugleich ihr Einkommen verlor, erklärt den Umzug in eine Gegend, die weit entfernt von ihren bisherigen Bezugspunkten lag. Ohne jegliches Einkommen konnte sie die nötige drei Mark wöchentliche Miete nicht aufbringen. Und so hat die Not wohl auch Paula Fehlberg, geborene Berlin, als mittellose zweifache Mutter – wie so viele andere – dazu gezwungen, als Alternative zur Obdachlosigkeit mit ihren zwei Kindern zur „Trockenwohnerin“ zu werden, also „durch ihr Wohnen den Trockenprozeß zu beschleunigen, und damit gleichzeitig den Ruin ihrer Gesundheit. Die spätere Gewerkschaftsvorsitzende kann Mitte des Jahres 1891 getrost zu den Ärmsten der Armen gezählt werden."
Auszüge aus:
Uwe Fuhrmann, „Frau Berlin“ – Paula Thiede (1870–1919). Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden, UVK Verlagsgesellschaft Konstanz, 160 Seiten, Konstanz 2019, ISBN 978-3867649056
Bereits für die Ausgabe 02/2019 der ver.di publik hat Uwe Fuhrmann eine kurze Darstellung von Paula Thiedes Leben geschrieben.
Solidarität, Organ des Verbandes der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und –Arbeiterinnen Deutschlands, Berlin, 8. März 1919
Nachruf auf Paula Thiede (Auszug)
„Der unerbittliche Schnitter, der in den letzten Jahren fürchterliche Ernte gehalten und auch in unsere Reihen manch klaffende Lücke gerissen, hat uns jetzt unsere Beste genommen. In der Nach zum 3. März hat P a u l a T h i e d e f ü r i m m e r d i e A u g e n g e s c h l o s s e n! Ein schweres, tückisches Darmleiden, das sie vor über einem Jahre befiel und dem keine ärztliche Kunst gewachsen war, hat sie nach langem qualvollem Leiden dahingerafft. Schon lange war für ihre Angehörigen und ihre nähere Umgebung die Hoffnung auf eine Besserung oder Wiedergenesung geschwunden. Nun aber das schmerzliche Ereignis eingetreten, fühlen wir die ganze Wucht des herben Verlustes, dem wir uns machtlos beugen müssen.
Mit Paula Thiede ist einer jener seltenen Menschen dahingegangen, die berufen sind, Großes zu vollbringen, deren Lebenswerk sie überdauert und ihren Namen unauslöschbar mit ihrer Schöpfung verbindet. Und unsere Organisation, der Verband der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und –Arbeiterinnen Deutschlands, war ihre Schöpfung und seine heutige Gestalt und seine Stärke war der Verstorbenen Lebenswerk!“
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Restaurierte Grabstätte
Auf den Spuren Paula Thiedes kann man nicht nur mit Hilfe der Biografie von Uwe Fuhrmann wandeln. Auf dem Zentralfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde, dem so genannten Sozialistenfriedhof, steht das Grabmal von Paula Thiede. Zu ihrem 150. Geburtstag am 6. Januar 2020 hat ver.di die Restauratorin Rosa J. Gottwald beauftragt, das Grabmal zu restaurieren.
Beim restaurierten Grabmal von Paula Thiede (vl): Uwe Fuhrmann (Biograf), Rosa Gottwald (Restaurateurin), Hartmut Simon (ver.di-Archivar)
Mehr Infos zum Rundweg auf der Website des Zentralfriedhofs Friedrichsfelde.