Wolfgang Leonhard zum 17. Juni 1953

Eine große, revolutionäre Freiheitsbewegung

11.07.2012

Interview mit dem Zeitzeugen und Historiker Prof. Wolfgang Leonhard zum Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der einstigen DDR und seine Auswirkungen 50 Jahre danach.
von Hartmut Simon und Martin Kempe

 
Wolfgang Leonhard

ver.di | Am 17. Juni jährt sich zum 50. Mal der Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR. Als "Tag der Deutschen Einheit" ist er abgeschafft. Welchen Stellenwert hat dieses Datum heute noch?

Leonhard | Beim "Tag der Deutschen Einheit" wurde nur ein kleiner, der nationale, Aspekt in den Mittelpunkt gestellt. Die Bedeutung des 17.Juni geht jedoch weit darüber hinaus. Es war ein Aufstand gegen die stalinistische Diktatur, der mit völlig gerechtfertigten wirtschaftlich-sozialen Forderungen der Industriearbeiter begann, aber sehr schnell darüber hinaus ging und mit der Forderung nach dem Sturz der Diktatur und demokratischen Wahlen in der DDR seinen Höhepunkt erreichte. Der 17.Juni ist für mich ein Tag des Kampfes einer großen, revolutionären Freiheitsbewegung. . Und es kommt nicht darauf an, ob sie erfolgreich war, sondern worin die Ziele bestanden, wofür die Menschen eingetreten sind. Für mich ist die Revolution von 1848 ein unglaublich bedeutendes Ereignis, obwohl sie niedergeschlagen worden ist. Dasselbe gilt für den 17. Juni.

ver.di | Wenn Sie sagen, es war ein bedeutendes Ereignis in der Geschichte unseres Landes, wieso haben Sie in ihren Gesprächen für ihr Buch: "Spurensuche - 40 Jahre nach'"Die Revolution entlässt ihre Kinder'", diesen Tag nicht angesprochen?

Leonhard | Zum 17. Juni habe ich sehr viel publiziert und mit meinen Freunden immer wieder gesprochen und diskutiert. Auch mit Leuten, die "Drüben" waren, oder die die Ereignisse in der Bundesrepublik Deutschland als Noch-Kommunisten erlebt haben. Dann, nachdem ich 40 Jahre später in die neuen Bundesländer kam, habe ich bei allen Diskussionen mit ehemaligen SED-Funktionären eine solche Wand verspürt, dass es absolut unmöglich war, mit ihnen darüber zu reden. Es gab kaum eine verlogenere Behauptung der SED-Führung, die so tief gewirkt hat, wie die Erklärung, dass es ein faschistischer Putschversuch war. Ich habe daher versucht, mit ihnen über die Ereignisse in Ungarn 1956 und vor allem in der Tschechoslowakei, dem "Prager Frühling" 1968, zu reden. Auch das war nicht leicht, aber ging eben besser als über den 17. Juni zu sprechen, wo die Abwehrhaltung total war.

ver.di | Glaubte die SED-Führung tatsächlich an einen von "faschistischen Provokateuren" angezettelten Aufstand?

"Es gab kaum eine verlogenere Behauptung der SED-Führung wie die Erklärung, dass es ein faschistischer Putschversuch war."
Wolfgang Leonhard

Leonhard | Sogar Menschen, die ich hoch schätze, kritische Menschen, waren davon überzeugt. Dagegen zu argumentieren war einfach immer außerordentlich schwer. Ich war daher sehr froh, dass ich bei jemanden, von dem ich es nicht erwartet habe, eine positive Erklärung über die Bedeutung des 17. Juni finden konnte: bei Putin, dem russischen Präsidenten. In dem Buch "Aus erster Hand - Gespräche mit Wladimir Putin" wird er gefragt: verurteilen Sie die sowjetischen Interventionen in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968. Woraufhin er antwortete: "Sie haben vergessen, dass wir auch 1953 in Deutschland Gewalt angewendet haben. Das waren meiner Ansicht nach sehr große Fehler."

ver.di | Welchen Einfluss hatte der Westen Ihrer Einschätzung nach?

Leonhard | Er hat beschwichtigt. Der unter US-Kontrolle stehende Sender RIAS beschränkte sich auf reine Nachrichtenübermittlung. Am 17.Juni wurde eine Arbeiterdelegation abgewiesen, die ihre Forderungen im RIAS verlesen wollte. Der von Demonstranten geforderte Generalstreik durfte nicht erwähnt werden. Sogar aus dem Kommentar des Westberliner DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski wurde das Wort gestrichen. Der US-Hochkommissar James B. Conant wies die RIAS-Redaktion zur äußersten Zurückhaltung an. Er wolle nicht, dass der RIAS für den Dritten Weltkrieg verantwortlich gemacht wird.

ver.di | Die Räson des "Kalten Krieges" hatte bereits das Handeln des Westens bestimmt?

Leonhard | Ja, es ging um Stabilität. Es durfte nichts passieren. Selbst wenn es gegen die kommunistischen Machthaber gerichtet war. Das Wichtigste war Ruhe und Stabilität. Wenn man den Westen kritisieren will, dass "Die" das inszeniert, gefördert, gestärkt, aufgeputscht hätten, ist das eine groteske historische Unwahrheit, weil es natürlich umgekehrt war. Sie haben alles zu beruhigen versucht.

ver.di | Hatte denn die Arbeitererhebung überhaupt eine Chance?

 
Wolfgang Leonhard

Leonhard | Es war ein spontaner Aufstand, aber mit einer erstaunlichen Kontinuität, Sachkenntnis und Steigerungsfähigkeit. Er verlief geradezu nach einem marxistisch-leninistischen Lehrbuch: Zuerst die unmittelbare gewerkschaftliche Tagesforderung nach Rücknahme der Normenerhöhung von zehn Prozent. Dann die politische Forderung nach Straffreiheit für die Streikenden. Dann die Wahl von Betriebsausschüssen. Überall wurden neue Organe außerhalb der DDR-Staats- und Parteiorgane und außerhalb des FDGB gewählt. Dann die Massendemonstrationen, die Befreiung von Menschen aus Gefängnissen und weitere Forderungen nach dem Sturz der Diktatur, nach demokratischen Wahlen, Presse- und Ausreisefreiheit. Es gab also ein alternatives Programm zum offiziellen DDR-System. Es zielte auf eine weitgehend freie, demokratische Staatsstruktur auf sozialistischer Grundlage. Der Aufstand hätte mit absoluter Sicherheit gesiegt. Fast das ganze SED-Politbüro hatte sich zum Sitz der sowjetischen Militärverwaltung in Karlshorst geflüchtet, einige sollen sogar schon ihre Koffer gepackt haben.

ver.di | Diejenigen, die man vielleicht auch noch in der DDR als bürgerliche Intelligenz bezeichnen könnte, waren an dem Aufstand kaum beteiligt. Wäre diese Bewegung, hätte sie sich durchgesetzt, nicht auch ohne die russischen Panzer möglicherweise später an internen Brüchen zum Scheitern verurteilt gewesen?

Leonhard | Das glaube ich nicht. Der Aufstand war zwar in erster Linie von der Industrie-Arbeiterschaft getragen, aber nicht nur. Wir haben auch Beispiele in Merseburg, Magdeburg und Rostock, wo andere Schichten teilgenommen haben, wie Angestellte, Lehrer, Handwerker, Intellektuelle, aber eben leider eine Minderheit. Doch obwohl die Industriearbeiterschaft die führende Kraft war, hat es nirgends eine Frontstellung gegen Gewerbetreibende oder Bauern gegeben. Wenn der Kampf länger gedauert hätte, ist die Wahrscheinlichkeit außerordentlich groß, dass diese anderen Kräfte auch mit hineingezogen worden wären.

ver.di | Waren Sie eigentlich überrascht von den Ereignissen am 17. Juni?

Leonhard | Dass es zum Aufstand kam, hat mich nicht überrascht. Dessen Ausdehnung allerdings schon. Seit dem Tode Stalins am 5. März 1953 hörte ich nicht nur jeden Tag Radio Moskau, sondern verglich auch die sowjetischen Zeitungen mit dem SED-Organ "Neues Deutschland". Während sich in der Sowjetunion eine immer schnellere Abkehr von Stalin vollzog, blieb in der DDR der scharfe Stalin-Kurs bestehen - mit den zu erwartenden Auswirkungen. Bereits Ende April 1953 kam es in der DDR zu Arbeitsniederlegungen und Protestbewegungen, weil die Menschen spürten: Er ist weg. Jetzt haben wir eine Chance, etwas zu verändern.

ver.di | Gab es in der Politik Moskaus nach dem Tode Stalins wirklich einen radikalen Wandel?

Leonhard | Das Ausmaß der Veränderung in der Sowjetunion nach dem 5. März 1953 war eigentlich nur Sachkennern bekannt. Es war aber eines der dramatischsten Ereignisse, die ich in 50 Jahren Sowjetstudium erlebt habe. Vom 5. März bis August/September 1953 - das war unglaublich, was jeden Tag vor sich ging. Das wurde weder im Westen bemerkt, weil man im Westen in dem Denken verhaftet war: Kommunismus bleibt Kommunismus. Und es wurde eigentümlicherweise auch von der Ulbricht-Führung nicht erkannt.

 
Wolfgang Leonhard

ver.di | Nicht erkannt oder abgelehnt?

Leonhard | Die verstanden überhaupt nicht, was los war. Grotesk waren ja schon die ersten zehn Tage. In der Sowjetunion wurde sofort eine Distanzierung von Stalin betrieben. Es durfte offiziell nur drei Tage getrauert werden. Und keine großen Worte in der "Prawda", kein einziges Politbüromitglied hat auch nur einen einzigen Gedenkartikel zum Tode Stalins geschrieben. Man erlaubte es nur zwei, drei Gebietsparteisekretären und zwei ausländischen Parteiführern, und zwar - bezeichnenderweise - Wilhelm Pieck und Enver Hodja, also aus der DDR und Albanien.

Es hatte da übrigens feste Regeln gegeben, dass Stalin 50- bis 60-mal auf der Titelseite der "Prawda" erwähnt werden musste. Zum ABC jedes Sowjetmenschen gehörte, dass er zählte, wie oft der Name erwähnt wurde. Dann, nach Stalins Tod, wurde er nur noch 35-mal erwähnt, zwei Wochen später waren es 25-mal, schließlich nur noch zweimal.

Jetzt gab es plötzlich auch ganz gewöhnliche 5-Jahrespläne ohne Stalin. Es gab "Flugzeugpiloten", Piloten von Flugzeugen, das hatte es doch unter Stalin nicht gegeben. Die hießen "Stalin'sche Falken" statt Piloten. Alles ging plötzlich ohne Stalin. Dann kam eine kollektive Führung. Kollektivität als Grundprinzip. Und warum? Weil Entscheidungen von Einzelnen oft einseitig und fehlerhaft seien, so zu lesen auf der Titelseite der "Prawda". Jeder wusste, wer da als Einzelner gemeint war. Das ging so schnell, dass die Parteiführung irgendwie dafür sorgen musste, dass die Leute das nachvollziehen konnten. Es gab dann die schönste Losung in der ganzen Geschichte der Sowjetunion: Das Gefühl für das Neue ist die wichtigste Aufgabe eines Parteimitglieds.

Ich habe immer abwechselnd die "Prawda" und das "Neues Deutschland" gelesen. Im "Neuen Deutschland" stand nichts. Kein "Gefühl für das Neue", nichts über kollektive Führung, nichts über sozialistische Gesetzlichkeit. Das waren alles die neuen Begriffe. Nichts davon in der Presse der DDR. Die haben noch von Moskau diese alten großen Schinken von Stalinbildern angefordert, um die in der DDR reproduzieren zu können. Da hat die Sowjetführung entschieden, einzugreifen.

"Es gab dann die schönste Losung in der ganzen Geschichte der Sowjetunion: Das Gefühl für das Neue ist die wichtigste Aufgabe eines Parteimitglieds."
Wolfgang Leonhard

Dann, am 2. bis 4. Juni 1953, wurden Walter Ulbricht, Otto Grotewohl und Fred Oelßner zum Kreml beordert. Fred Oelßner, der als einziger SED-Führer fließend russisch konnte, übersetzte einen Maßnahmenkatalog: Anweisung an die Führung der DDR. Darin stand alles, was die DDR-Führung falsch gemacht hatte, und was sie machen sollte. Und das hieß "Neuer Kurs". Leider wurde der "Neue Kurs" in der DDR, und wird auch heute noch, fälschlicherweise nur als Wirtschaftskatalog bezeichnet. Wirtschaftliche Forderungen gab es zwar auch: kein Druck auf die Kollektiv-Bauern, kein Druck auf die Handwerker, Heranziehung des Privatkapitals, Verringerung der Militärkosten, Verstärkung der Konsumgüterproduktion usw..

Der "Neue Kurs" war aber mehr: Er verurteilte die Beschlüsse von der zweiten SED-Parteikonferenz im Juli 1952 über den Aufbau des Sozialismus und forderte: Eliminierung des Begriffs Sozialismus, Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen Ost und West, neue Beziehungen zur SPD, Schluss mit jeglicher Unterdrückung und Reglementierung der Kirche und der jungen Gemeinde, Verzicht auf führende Rolle der SED, Verstärkung der Rolle der Blockparteien genauso wie Rückkehr der relegierten Oberschüler. All das stand in dem Papier, verbunden mit einer Entschuldigung für die begangenen Fehler.

Moskau verlangte von der Delegation eine Stellungnahme dazu, was zwei Tage dauerte. Als die Stellungnahme verlesen wurde, standen die sowjetischen Politbüromitglieder auf und sagten, das sei ein dummer Aufguss ihrer Vorschläge. Sie verlangten eine Einberufung einer Zentralkomitee-Sitzung, was Ulbricht allerdings nicht gemacht hat.

Es gab keine Tagung des Zentralkomitees, sondern nur Tagungen des Politbüros. Wladimir Semjonow, der sowjetische Hohe Kommissar, war dabei und sah, dass Ulbricht mit Ach und Krach den bürgerlichen Kräften, dem Bürgertum und den jungen Gemeinden Konzessionen machte, aber idiotisch genug war, die Normenerhöhung von 10 Prozent nicht zurück zu nehmen. Das war natürlich grotesk. Die Normenerhöhung musste die Arbeiter auf die Barrikaden treiben. Dann wurde eben von sowjetischer Seite klargestellt, dass Ulbricht nicht mehr tragbar sei.

ver.di | Das heißt aber, dass es eine historische Alternative gab.

Leonhard | Ja. Ich kenne kein sowjetisches Dokument, das so nah an der Realität, der Stimmung der Bevölkerung war, wie das Dokument vom 2. Juni über die notwendigen Wandlungen der DDR.

ver.di | Hat der Aufstand des 17. Juni den Reformkräften in der Sowjetunion geschadet?

Leonhard | Der 17. Juni? Ja, das denke ich schon. Die Sowjetunion hat natürlich am Anfang gezögert. Schon am 16. Juni gegen 16.00 Uhr verlangten die SED-Führer, die Sowjets sollen eingreifen und Ordnung schaffen. Die Sowjets haben gezögert. Sie wollten sich ja nicht mit Ulbrichts System, das sie ja gerade in Bausch und Bogen verdammt hatten, solidarisieren. Abends nicht, in der Nacht nicht, und erst eben am nächsten Tag, gegen Mittag.

ver.di | Also kann man überspitzt formulieren, hätte es den Aufstand am 17. Juni nicht gegeben, wäre es eventuell so gekommen, dass Ulbricht abgesetzt und der "Neue Kurs" in einer völlig anderen Form hätte durchgesetzt werden können.

Leonhard | Der Volksaufstand hat einen Rückschlag bedeutet. Nicht einen totalen, aber einen Rückschlag, weil die Sowjets auch Ordnung und Stabilität haben wollten. In sowjetischen Zeitungen konnte man damals lesen, unterdrücken ja, aber dann werden wir den "Neuen Kurs" fortsetzen. Und so kam es, dass nach dem Volksaufstand, nach dessen Niederschlagung, von sowjetischer Seite aus weiterhin der "Neue Kurs" und die Verbesserung der Beziehung zwischen DDR und der Bundesrepublik verlangt wurde. Anfangs sagte das auch Grotewohl, aber nicht Ulbricht. Er hat den 17. Juni benutzt, um den "Neuen Kurs" kaputt zu machen.

 
Wolfgang Leonhard

Das Allertollste war, dass die Sowjets die Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag von Walter Ulbricht am 30. Juni untersagten. Schon vor Stalins Tod war eine Kommission gebildet worden, die eine riesige, pompöse Geburtstagsfeier vorbereiten sollte. Eine große Biographie sollte erscheinen, ein riesiger Film, also alles war schon fix und fertig. Lotte Ulbricht und Fred Oelßner waren dafür verantwortlich. Dann, bei der Politbüro-Sitzung am 6. Juni, in der über den "Neuen Kurs" beschlossen wurde, standen auch die Feiern zum 60. Geburtstag von Ulbricht auf der Tagesordnung. Semjonow meldet sich und sagte, er habe dazu einen Vorschlag: 'Am besten wäre, Walter Ulbricht würde seinen 60. Geburtstag so feiern, wie Lenin seinen 50. Geburtstag'. Auf die Frage, wie Lenin seinen 50. Geburtstag gefeiert habe, antwortete Semjonow: 'Lenin hat ein paar Freunde zu sich nach Hause eingeladen.' Damit wurde alles eingestellt. Inzwischen wusste man ja, dass die Sowjetunion Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser als die beiden Führer für die DDR herausgestellt hatte, und der 60. Geburtstag Ulbrichts verging ohne offizielle Feierlichkeiten.

Ein interessantes Dokument hierzu ist der Glückwunsch zum 60. Geburtstag von Walter Ulbricht. Es gab eine Grundregel in der kommunistischen Zeit. Ein Parteiführer eines verbündeten Staates bekam auf der Titelseite der "Prawda" mit großem Bild einen Glückwunsch des Zentralkomitees der KPdSU, und da stand zu lesen: Name, Parteifunktion, also Erster Sekretär oder Generalsekretär, Staatsfunktion, Staatsrat usw.. Dann gab es Hinweise auf seine Erfolge und Glückwünsche für die Zukunft. Jeder bekam das, wenn man 60 Jahre alt wurde. Es gibt in der ganzen Geschichte der Sowjetunion nur eine Ausnahme: der 60. Geburtstag von Honecker. Auf der ersten Seite nicht, auf der zweiten Seite, ganz klein oben: Glückwunsch des ZK der KPdSU. Kein Bild, nur eine kleine Notiz, an den Genossen Walter Ulbricht: Und da stand: "Ihnen zu ihrem 60. Geburtstag als einem der hervorragendsten Organisatoren und Führer der Sozialistischen Einheitspartei." "Einer", nicht: Erster Sekretär, Generalsekretär. "Einer". Und dann: "Wir wünschen Ihnen Erfolg im Kampf für die Hebung der Lebensbedingungen des Volkes, für den Frieden und für die Einheit Deutschlands". Das Wort DDR kam nicht vor.

Das stand also in der "Prawda". So etwas hatte es noch nicht gegeben. Das konnte man im "Neuen Deutschland" natürlich so nicht bringen, und da hat das "Neue Deutschland" die "Prawda" zensiert, was auch selten gewesen ist. "Dem Generalsekretär des ZK der SED und stellvertretenden Ministerpräsidenten, Walter Ulbricht, ist vom Zentralkomitee, folgendes Telegramm übermittelt worden." Im Text stand das ja nicht drin, das musste man also dazu schreiben. Dieser Glückwunsch ist also ein gefälschter Text. Und auch den Text selbst haben sie noch ein bisschen aufgemotzt, damit er nicht gar so kärglich aussieht.

"Die Spontaneität spielte eine entscheidende Rolle. Nirgends gab es eine Organisation, die alles vorher geplant hätte."
Wolfgang Leonhard

ver.di | War 1953 also der Beginn des Emanzipationsprozesses gegen das Sowjetsystem?

Leonhard | Der Aufstand im Juni 1953 in der DDR war der Beginn ähnlicher, teilweise weitergehender Emanzipationsprozesse, darunter die Revolution in Ungarn im Herbst 1956, der Prager Frühling 1968 in der Tschechoslowakei und die Bewegung der Solidarnosc in Polen 1980 bis 1981. Sie alle weisen eine große Ähnlichkeit auf. Nirgends gab es eine Organisation, die alles vorher geplant hätte. Die Spontaneität spielte eine entscheidende Rolle. Die Bewegungen begannen mit aktuellen Tagesereignissen, weiteten sich schnell zu allgemein politischen Forderungen und schließlich zu umfassenden Emanzipationsbewegungen aus. Stets entstanden neue, gewählte Organe, die an die Stelle der Partei oder der Staatsorgane des Unterdrückungssystems traten. Neben der Arbeiterschaft beteiligten sich zunehmend auch Bauern, der Mittelstand und Intellektuelle. Für mich markiert der 17. Juni die erste dieser großen Emanzipationsbewegungen und sollte entsprechend gewürdigt werden. In der Schweiz, den USA und Frankreich werden revolutionäre Ereignisse als Staatsfeiertage begangen. In Deutschland bisher leider nicht.

Und das ist auch jetzt wieder nicht der Fall. Anstelle des Herbstes 1989 mit den Montagsdemonstrationen, dem Sturz Honeckers, der Wende und dann der friedlichen Revolution steht ein Nebenereignis im Mittelpunkt: die Öffnung der Berliner Mauer. Es ist zum verzweifeln in Deutschland. Wenn mal endlich eine revolutionäre Bewegung da ist, eine demokratische, was tun die Deutschen: sie machen nationalen Krimskrams, verfälschen immer alle großen Ereignisse.

ver.di | Welcher Feiertag schwebt Ihnen denn vor?

Leonhard | Der 3. Oktober 1990 als "Tag der Deutschen Einheit" überzeugt mich nicht. Ich würde für den 9. Oktober 1989 plädieren, den Tag der größten Montagsdemonstration in Leipzig. Die meisten Teilnehmer hatten damit gerechnet, es würde auf sie geschossen. Aber dazu war die Bewegung schon zu stark. Mit dem Sieg dieser Demonstration begann der Zusammenbruch des DDR-Systems. Diesen Tag feiere ich - als Tag der friedlichen Revolution, als Aufstand gegen die Diktatur, als Tag der revolutionären Freiheitsbewegung.