1. August 1914: Der Erste Weltkrieg beginnt

01.11.2012
Beginn 1. Weltkrieg

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 endete die Illusion, "dass sich internationale Solidarität des Proletariats gegenüber den Kräften des bürgerlichen Nationalismus behaupten und durchsetzen könne" (Hans Mommsen).

Alle nationalen Organisationen der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung unterstützten die Kriegspolitik ihres Landes.

Wie konnte es dazu kommen? Waren diese Organisationen in den Jahren vorher nicht entschieden gegen Rüstung, Militarismus und Kriegstreiberei aufgetreten? War es ein Sinneswandel, gar Verrat an den eigenen Grundsätzen?

Dr. Manfred Scharrer sucht diese Fragen am Beispiel der deutschen Sozialdemokratie und freien Gewerkschaften in seinem Aufsatz  "August 1914 - Patriotismus und Internationalismus" zu beantworten.

Manfred Scharrer: August 1914 - Patriotismus und Internationalismus

 

  • Patriotismus und Internationalismus

    »Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!«
    (Der SPD-Parteivorstand am 25. 7. 1914)

    »Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.«
    (Die SPD-Reichstagsfraktion am 4. 8. 1914)

    Am 4. August 1914 stimmte die Reichstagsfraktion der SPD geschlossen - zusammen mit den anderen Parteien - für die Bewilligung der Kriegskredite. Schon am 2. August hatte die Vorständekonferenz der freien, also sozialdemokratischen Gewerkschaften sich darauf verständigt, alle laufenden Lohnkämpfe einzustellen und für die Dauer des Krieges keine mehr zu führen. Außerdem hatte sie dem Innenministerium angeboten, bei der Vermittlung von Arbeitseinsetzen zur Einbringung der Ernte zu helfen.(1) Nicht zuletzt gehörten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion 29 Gewerkschaftsfunktionäre an - darunter 6 Mitglieder der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands und eine Reihe von Vorsitzenden der Einzelverbände -, von denen bei der fraktionsinternen Entscheidung über die Haltung der SPD zu den Kriegskrediten mit Ausnahme des Redakteurs der Schuhmacherzeitung Wilhelm Bock alle 25 anwesenden Gewerkschafter für eine Bewilligung stimmten.(2)

    Im Unterschied zu den freien Gewerkschaften (und zur SPD) wirft die bedingungslose Kriegsunterstützung der christlichen und liberalen Gewerkschaften (und der ihnen nahestehenden Parteien) keine Fragen auf, waren diese Gewerkschaften doch im bewußten Gegensatz zu den »internationalen« sozialdemokratischen Gewerkschaften der nationalen Sache, dem Kaiser und dem Reich treu ergeben. Sie brauchten auch nicht erst einen »Burgfrieden« zu erklären, weil sie ohnehin schon immer eine klassenkämpferische Haltung abgelehnt hatten. Deshalb ist im folgenden auch nur von den freien Gewerkschaften die Rede.

    Vor allem aus heutiger Sicht, also in Kenntnis der Geschichte des Ersten Weltkrieges, seines Charakters, seiner Ursachen und seiner Folgen für die deutsche Geschichte und für die Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung, muß die Kriegsunterstützung der Sozialdemokratie als verhängnisvolle Entscheidung gewertet werden.

    Nicht abgerissen ist bis heute auch die allgemeine Diskussion über die Frage der Verantwortlichkeit und Schuld für diesen Krieg. Besonders die im Versailler Vertrag festgeschriebene Alleinschuld der Deutschen mit der die Friedensbedingungen der Sieger begründet wurden - löste in Deutschland quer durch alle politischen Parteien helle Empörung aus. Deutsche Historiker schrieben dutzende Bücher, in denen sie nachzuweisen versuchten, daß diese Schuldzuweisung ungerecht sei.

    Schließlich - in den deutsch-französischen Vereinbarungen zu Fragen gemeinsamer Geschichte 1951 - einigte man sich darauf, daß die Schuld am Ersten Weltkrieg sich gleichmäßig auf alle beteiligten Regie-rungen verteile, bzw. daß die Dokumente es nicht erlauben, »im Jahre 1914 irgendeiner Regierung oder einem Volk den bewußten Willen zu einem europäischen Krieg zuzuschreiben«.(3)

    Diese mühsam errungene Eintracht in einer Frage, die so unendlich viel politisches Unheil angerichtet hatte, wurde nachdrücklich gestört durch Fritz Fischers Untersuchung »Griff nach der Weltmacht«. Fischer kam zu dem Schluß, daß die »deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges« trage.(4) Das treibende Motiv für diese Politik seien die imperialistischen Interessen Deutschlands gewesen, wie die Kriegszieldiskussion beweise. Vor allem diese Annahme ist umstritten, da sich für die Julikrise keine Dokumente auftreiben lassen, die belegen könnten, daß Kriegsziele, wie sie nach Beginn des Krieges formuliert wurden, eine Rolle gespielt haben.

    Tatsächlich kann mit einigem Recht dagegen eingewandt werden, daß diese Kriegszieldiskussion Folge und nicht Ursache für die deutsche Politik gewesen sei. Selbst nichtkonservative Historiker wie Dieter Groh lehnen deshalb Fischers Erklärung ab. Zwar geht Groh ebenfalls davon aus, daß die deutsche Regierung die Hauptschuld am »Ausbruch« des Krieges trage, jedoch vermutet er als Motiv hinter ihrer Politik keinen im-perialistischen Eroberungsdrang, sondern einen Präventivkrieg mit »defensiver Tendenz« auf Grund zunehmender militärischer Schwäche des deutschen Reiches im Rüstungswettlauf mit den Großmächten des gegnerischen Bündnissystems.(5)

    Es ist hier nicht der Platz, diese Diskussion zu führen, die als »Fischer-Kontroverse« Bücher füllt,(6) doch selbst wenn man Fischers These nicht zustimmt, daß deutsches Hegemonialstreben unmittelbar die Ursache für jene politischen Entscheidungen war, die zum Kriege geführt haben, dann bleibt doch die These der Hauptverantwortung für die »Entfesselung« des Krieges schlüssig und die These Egmond Zechlins von einer »präventiven Abwehr« wenig überzeugend. Für diese Annahme wäre wenigstens der Nachweis zu erbringen, daß Rußland, Frankreich oder England Deutschland aggressiv bedroht hätten. Doch Anhängern der These, daß Deutschland einen defensiven Präventivkrieg geführt habe, umgehen diese Schwierigkeit, indem sie nicht die objektive, sondern die subjektiv empfundene Bedrohung der deutschen Reichsführer ihrem Urteil zugrunde legen. Das vielbeschworene Einkreisungssyndrom scheint jedoch selbst wieder nur ein Reflex auf imperialistische Eroberungssehnsüchte, auf die vorherrschende Meinung, Deutschland sei bei der kolonialen Aufteilung der Welt im Vergleich zu Frankreich und England zu kurz gekommen.

    Für unsere Diskussion über das Verhalten der sozialistischen Arbeiterbewegung zu Beginn des Ersten Weltkrieges genügt die Erkenntnis, daß, wie immer die Motive und die Politik der Reichsführung eingeschätzt werden mögen, eines mit Sicherheit nicht behauptet werden kann, daß Deutschland einen Verteidi-gungskrieg aufgezwungen bekam, wie es Kaiser und Reichskanzler in den entscheidenden Juli- und Au-gusttagen der Öffentlichkeit in bewußt täuschender Absicht weiszumachen versuchten. So erklärte der Kaiser:

    »Uns treibt nicht Eroberungslust, uns beseelt der unbeugsame Wille, den Platz zu bewahren, auf den Gott uns gestellt hat, für uns und alle kommenden Geschlechter.
    Aus den Schriftstücken, die Ihnen zugegangen sind, werden sie ersehen, wie meine Regierung und vor allem mein Kanzler bis zum letzten Augenblick bemüht waren, das Äußerste abzuwenden. In aufgedrungener Notwehr mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert«.(7)

    Und sein Reichskanzler von Bethmann-Hollweg ergänzte:

    »Wir wollten in friedlicher Arbeit weiterleben, und wie ein unausgesprochenes Gelübde ging es vom Kaiser bis zum jüngsten Soldaten: nur zur Verteidigung einer gerechten Sache soll unser Schwert aus der Scheide fliegen.
    (Lebhaftes Bravo).
    Der Tag, da wir es ziehen müssen, ist erschienen - gegen unseren Willen, gegen unser redliches Bemü-hen. Rußland hat die Brandfackel an das Haus gelegt. (Stürmische Rufe: Sehr richtig! Sehr wahr!)
    Wir stehen in einem erzwungenen Kriege mit Rußland und Frankreich«.(8)

    Zu klären ist die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß die deutschen Sozialdemokraten - und die gleiche Frage ist an die französischen Sozialisten zu richten - den Krieg unterstützen konnten, wo sich die internationale Sozialdemokratie doch in den Jahren vorher als jene politische Kraft profiliert hatte, die am entschiedensten gegen Rüstung, Militarismus und Kriegstreiberei aufgetreten ist.

    Wird der Blick nur auf diese Seite der Sozialdemokratie gerichtet, auf die großartigen Kundgebungen und Manifestationen zur Völkerverständigung, die auf den internationalen Sozialistenkongressen ein besonders feierliches Gepräge erhielten, dann erscheint dieses Verhalten unverständlich, wenn nicht als Verrat an vormals so oft beschworenen Grundsätzen.

     

  • Die sozialistische Internationale

    Schon auf dem zweiten internationalen Sozialistenkongreß 1891 in Brüssel rückte die Frage, wie sich die Arbeiterklasse gegenüber einem drohenden Weltkrieg verhalten solle, in das Zentrum der Auseinandersetzung. Provoziert wurde der Streit durch die Forderung des holländischen Sozialisten Domela Nieuwenhuis, daß die Sozialisten aller Länder im Falle einer »etwaigen Kriegserklärung« einen Aufruf an das Volk zur »allgemeinen Arbeitseinstellung« erlassen sollten.(9) Vom deutschen Delegierten Wilhelm Liebknecht wurde dies als »jämmerliche Phrase« abgetan. Dies war auch die Meinung der überwältigenden Mehrheit der Delegierten und sollte es bleiben. Der Streit darüber, wie Sozialisten auf einen drohenden Krieg reagieren müßten, wurde auf allen folgenden internationalen Kongressen mit zunehmender Heftigkeit fortgesetzt.

    Eine Ursache für diese Meinungsverschiedenheiten war, daß Sozialisten wie Nieuwenhuis davon ausgin-gen, daß im Zeitalter des Imperialismus »keine einzige Regierung sich entschuldigen kann, daß sie provoziert ist, weil der Krieg das Resultat des internationalen Kapitalismus ist«, daß also die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg hinfällig sei.(10) Die überwältigende Mehrheit der Internationale bekannte sich jedoch zum Grundprinzip des »vollen Selbstbestimmungsrechts aller Nationen«, zum Recht, diese Selbständigkeit, falls notwendig, zu verteidigen, und zum Recht unterdrückter Nationen, ihre staatliche Selbständigkeit zu erkämpfen.(11) Lenin war einer der radikalsten Verfechter dieser Position und stritt sich darüber mit Rosa Luxemburg über Jahre hinweg.(12)

    Hinter diesen Grundsätzen und der selbstverständlichen Ablehnung kriegerischer Maßnahmen als Mittel der Politik stand die Unterscheidung zwischen einem Angriffs- und Verteidigungskrieg. Unmißverständlich kam dies auch auf dem Stuttgarter Sozialistenkongreß zum Ausdruck, der endgültig eine abschließende und verbindliche Antwort zum Thema »Militarismus und internationale Konflikte« formulieren sollte. In dem Vorschlag der Mehrheit der französischen Delegation hieß es dazu:

    »Die Arbeiterklasse aller Länder ist daran zu erinnern, daß eine Regierung die Unabhängigkeit einer frem-den Nation nicht bedrohen kann, ohne sich gegen diese Nation, gegen deren Arbeiterklasse und ebenso gegen die internationale Arbeiterklasse zu vergehen. Die bedrohte Nation und Arbeiterklasse haben die gebieterische Pflicht, ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit gegen diese Angriffe zu wahren, und sie haben ein Anrecht auf den Beistand der Arbeiterklasse der ganzen Welt.«(13)

    Der Position von Gustave Hervé, daß es für das Proletariat gleichgültig sei, »in und unter welcher National- und Regierungsmarke die Kapitalisten es ausbeuten«,(14) hielt Jean Jaurès entgegen:

    »Das Vaterland will Hervé zerstören. Wir wollen das Vaterland zum Nutzen der Proletarier sozialisieren durch Überführung der Produktionsmittel in das Eigentum aller. (Beifall) Denn die Nation ist das Schatzhaus des menschlichen Genies und Fortschritts, und es stände dem Proletariat schlecht an, die kostbaren Gefäße menschlicher Kultur zu zertrümmern. (Sehr gut)«.(15)

    Nicht weniger großartig war August Bebels patriotisches Bekenntnis zum gleichen Thema:

    »Hervé sagt: Das Vaterland sei das Vaterland der. herrschenden Klassen, das ginge dem Proletariat nichts an. Ein ähnlicher Gedanke ist im Kommunistischen Manifest ausgesprochen, wo es heißt: Der Proletarier hat kein Vaterland. Aber einmal haben Marx' und Engels' Schüler erklärt, daß sie nicht mehr die Anschauungen des Manifests teilten und zweitens haben sie im Laufe der Jahrzehnte zu den europäischen und deutschnationalen Fragen sehr klar und keineswegs negativ Stellung genommen. Was wir bekämpfen, ist nicht das Vaterland an sich, das gehört dem Proletariat weit mehr als den herrschenden Klassen, sondern die Zustände, die in diesem Vaterlande im Interesse der herrschenden Klassen vorhanden sind. (Sehr richtig)«.(16)

    Die große Auseinandersetzung in Stuttgart drehte sich jedoch nicht um diese Differenzen. Hervé war ein Außenseiter, ein »enfant terrible«, wie ihn Rosa Luxemburg zur Heiterkeit der Delegierten titulierte. Haupt-streitpunkt waren die unterschiedlichen Auffassungen der französischen und deutschen Delegierten in der Frage, welche Maßnahmen die Sozialisten ergreifen sollten, falls es zum Krieg käme, bzw. genauer, wel-che Maßnahmen jene Sozialisten ergreifen sollten, von deren Land aus ein Eroberungskrieg angezettelt werden sollte. Jaurès verlangte in seiner Resolution, daß diese Sozialisten dann verpflichtet seien, von der »parlamentarischen Intervention, der öffentlichen Agitation bis zum Massenstreik und zum Aufstand« alles zu unternehmen, um einen solchen Krieg zu verhindern. Bebel wehrte sich entschieden gegen eine solche Verpflichtung. Zur Begründung entwickelte er ein Schreckensszenario, das in den Worten gipfelte:

    »In den Massenschlachten der Gegenwart, so hat ein deutscher General gesagt, wer den wir nicht wissen, wo wir die Verwundeten aufnehmen und die Toten begraben sollen. Und in solcher Situation sollen wir uns mit Massenstreikspielereien abgeben? Bei unserem ersten Aufruf dazu würden wir ausgelacht werden ... Wir können also nichts tun, als aufklären und Licht in die Köpfe bringen, agitieren und organisieren.«(17)

    Da eine Einigung über diesen Gegensatz nicht erzielt werden konnte, machte Bebel den Vorschlag, eine "Subkommission" zu bilden mit dem Auftrag, eine Resolution auszuarbeiten, der möglichst alle zustimmen konnten. Letzteres brauchte den Mitgliedern nicht eigens gesagt werden, denn der Anspruch des Kongresses war ja, der Welt eine geschlossene und einheitliche sozialistische Internationale zu demonstrieren. Dies war die Stunde der Formulierungskünstler. Lenin, Rosa Luxemburg u. a. gelang es, um den Preis weitestgehender Unverbindlichkeit, Formulierungen zu finden, die tatsächlich alle Delegierten zufrieden stellten. Die entscheidende Passage der Resolution lautete nun:

    »Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarischen Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet.... alles aufzubieten, um den Ausbruch des Krieges durch Anwendung entsprechender Mittel zu verhindern...Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.«(18)

    Nach Kriegsbeginn beriefen sich alle Sozialisten auf eben diese Resolution, um ihr jeweils unterschiedliches Verhalten zu rechtfertigen.

     

  • Das patriotische Bekenntnis

    Den patriotischen Bekenntnissen deutscher Sozialdemokraten auf den internationalen Kongressen entsprachen eher noch entschiedenere Äußerungen im eigenen Land. Das berüchtigste Beispiel ist die »Flintenrede« Bebels im Reichstag 1904:

    »... aber wenn der Krieg ein Angriffskrieg werden sollte, ein Krieg, in dem es sich dann um die Existenz Deutschlands handelte, dann - ich gebe Ihnen mein Wort - sind wir bis zum letzten Mann und selbst die ältesten unter uns bereit, die Flinte auf die Schulter zu nehmen und unseren deutschen Boden zu verteidigen, nicht Ihnen, sondern uns zu Liebe, selbst meinetwegen Ihnen zum Trotz. (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
    Wir leben und kämpfen auf diesem Boden, um dieses Vaterland, unser Heimatland, das so gut unser Vaterland, vielleicht noch mehr als Ihr Vaterland ist. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.)
    Das ist unser Bestreben, das suchen wir zu erreichen, und deshalb werden wir jeden Versuch, von diesem Vaterlande ein Stück Boden wegzureißen, mit allen uns zu Gebote stehenden Kräften bis zum letzten Atemzuge zurückweisen«.(19)

    Noch auf dem Parteitag 1907 in Essen wiederholte Bebel diese Formulierungen. Immer noch war es ihm »bitter ernst« damit, daß er selbst als »alter Knabe« noch die »Flinte auf den Buckel« nehmen würde, wenn es gegen Rußland, den »Feind aller Kultur und aller Unterdrückten« ginge.(20) Hauptsächlich ging es in dieser Diskussion jedoch um eine Rede Gustav Noskes, der ganz im Tenor von Bebel im Reichstag eine patriotische Rede gehalten hatte. Vor allem Karl Liebknecht kritisierte Noske deshalb, hatte dieser doch seine Auffassungen zu Militarismus im Namen der Partei als die Meinung eines einzelnen abgetan. Das gleiche tat Bebel später als Zeuge im Hochverratsprozeß gegen Karl Liebknecht. Auf dem Essener Parteitag stieß Karl Liebknecht mit seinem Vorschlag, den Proletariern den Kasernendrill zu »verekeln«, ebenfalls auf wenig Gegenliebe und sah sich dann gezwungen, zu erklären, daß er »den Standpunkt einer völligen Wehrlosmachung des Volkes nicht vertrete«.

    Es waren jedoch nicht nur schwungvolle patriotische Reden, mit denen Sozialdemokraten immer wieder versuchten, ihre »nationale Zuverlässigkeit« unter Beweis zu stellen, sie waren auch zu entsprechenden Taten bereit. So stimmten sie 1913 für die Kostendeckung der Heeresvorlage, nachdem Bebel u. a. sich vorher in der geheimen Budgetkommission davon überzeugen ließen, daß Deutschland einer Bedrohung durch Rußland ausgesetzt sei, und die Deckungsvorlage gekoppelt wurde mit dem »Reichsvermögenszuwachssteuergesetz«. Zur Begründung erklärte Bebel: »Wir müssen in Deutschland mit der Möglichkeit des Angriffskrieges von außen leider einstweilen noch rechnen, namentlich von Osten her.«(21)

    Das Prinzip »diesem System keinen Mann und keinen Groschen« wurde hier bereits zugunsten des Grundsatzes »direkte, statt indirekte Steuer« aufgegeben.

    An der Bereitschaft der Sozialdemokratie, im Falle eines Angriffes von außen einen deutschen Verteidigungskrieg zu unterstützen, konnte vor 1914 kein Zweifel bestehen, und diese Bereitschaft war besonders groß, falls Deutschland von Rußland angegriffen würde. Dies bot für die deutsche Reichsführung sogar die Möglichkeit, die Unterstützung der Sozialdemokratie auch für einen Eroberungskrieg zu gewinnen, falls sie ihn nur glaubhaft als Verteidigungskrieg erscheinen lassen konnte. Der Reichskanzler Bethmann Hollweg nutzte diese Chance zum Verhängnis der Sozialdemokratie dann meisterhaft.

    Diese Gefahr wurde von einigen durchaus gesehen. Ihre Warnungen, daß die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg kein tauglicher Maßstab zur Bestimmung sozialdemokratischer Politik sein könnte, wurden jedoch in den Wind geschlagen. Kautskys Äußerungen auf dem Essener Parteitag 1907 waren prophetisch:

    »Die deutsche Regierung könnte aber auch eines Tages den deutschen Proletariern weismachen, daß sie die Angegriffenen seien, die französische Regierung könnte das gleiche den Franzosen weismachen, und wir hätten dann einen Krieg, in dem deutsche und französische Proletarier mit gleicher Begeisterung ihren Regierungen nachgehen und sich gegenseitig morden und die Hälse abschneiden.«(22)

    Weder die Partei und schon gar nicht die Gewerkschaften befaßten sich mit solchen und ähnlichen Einwänden ernsthaft. Nur zu bereitwillig vertrauten die Sozialdemokraten Bebels Argument, daß, wenn es schon beim Krieg 1870/71 möglich war, die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg zu treffen, wie viel leichter sei dies dann heute, wo sie doch »inzwischen älter und gescheiter« geworden seien.

    Bebel starb 1913 und brauchte den Beweis für seine Fähigkeit nicht anzutreten; Kautsky fühlte sich in seiner Einschätzung, nachdem seine Prophezeiung in Erfüllung gegangen war, bestätigt. Jedoch leitete er nun aus der Unmöglichkeit, einen Verteidigungs- von einem Angriffskrieg unterscheiden zu können, das Recht einer jeden nationalen Partei ab, einen Verteidigungskrieg bei subjektiv ehrlicher Überzeugung zu unterstützen.

     

  • Die Entscheidung

    Am 28. Juni 1914 wurde der österreichische Thronfolger in Sarajewo ermordet. Die Sozialdemokraten er-kannten, daß das »Problem Osterreich« sich »immer drohender zu einer Gefahr für den Frieden Europas« erhob. An eine konkrete Kriegsgefahr mochten sie jedoch nicht glauben, zumal sich in den Tagen nach dem Attentat die Erregung zunehmend verflüchtigte. Der Ruhe nach außen stand eine fieberhafte Tätigkeit der Geheimdiplomatie gegenüber. Am 5. Juli ermutigte der deutsche Kaiser die Österreicher, die günstige Gelegenheit zur Ausschaltung Serbiens nicht verstreichen zu lassen, und gab ihnen eine »Blankovollmacht« für einen Krieg gegen Serbien auch auf die Gefahr hin, daß dies zu einem europäischen Krieg führen könnte. Die These, Deutschland trage die Hauptverantwortung am Ausbruch des Krieges, stützt sich auf diesen unbestrittenen Vorfall, denn ohne die Zusage einer bedingungslosen Unterstützung hätte der österreichisch-ungarische Ministerrat am 7. Juli nicht beschließen können, den Krieg gegen Serbien zu wagen. Dies alles geschah hinter dem Rücken einer ahnungslosen Öffentlichkeit. In den Julitagen war auch die Sozialdemokratie bloßer Spielball der Geheimdiplomatie und Kabinettspolitik.

    Als am 24. Juli das österreichische Ultimatum an Serbien bekannt wurde, erkannte die Weltöffentlichkeit die drohende Kriegsgefahr. Es bereitete auch keine Schwierigkeiten, die österreichische Regierung als verantwortlichen Kriegstreiber namhaft zu machen, denn die Forderungen an Serbien waren so gestellt, daß sie nur unter Preisgabe seiner Souveränität erfüllt werden konnten.

    In diesem Zusammenhang steht nun der berühmte Aufruf des sozialdemokratischen Parteivorstandes vom 25. Juli, gegen »die frivole Kriegsprovokation der österreichisch-ungarischen Regierung« (in abendlichen Versammlungen) zu protestieren. Gleichzeitig sollten sie an die deutsche Regierung appellieren, »daß sie ihren Einfluß auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens ausübe, und falls der schändliche Krieg nicht zu verhindern sein sollte, sich jeder kriegerischen Einmischung enthalte«.(23)

    Hinter diesem Aufruf stand die Auffassung, die deutsche Regierung habe ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens. Diese Einschätzung verbreitete Rosa Luxemburg noch am 28. Juli:

    »Fragt man freilich, ob die deutsche Regierung kriegsbereit sei, so kann die Frage mit gutem Recht ver-neint werden. Man kann den kopflosen Leitern der deutschen Politik ruhig zugestehen, daß ihnen in diesem Augenblick jede andere Perspektive in lieblicherem Lichte erschien als die, um des habsburgischen Bartes willen alle Schrecken und Wagnisse des Krieges mit Rußland und Frankreich oder gar am letzten Ende mit England auf sich zu nehmen«.(24)

    Offensichtlich konnte sich selbst der gescheiteste Kopf der Linken nicht vorstellen, daß die deutsche Regierung das Risiko eines Zweifrontenkrieges bewußt eingehen könnte. Diese eklatante Fehleinschätzung der tatsächlichen Politik der deutschen Führung trug fatalerweise dazu bei, den Eindruck eines Verteidigungsfalles für Deutschland zu unterstützen. Rosa Luxemburgs Ausführungen zum Mechanismus der Bündnis-Systeme verstärkten diesen Eindruck noch dadurch, daß der Zarismus als jene entscheidende Kraft benannt wurde, die den europäischen Krieg auslösen könnte:

    »Sie (die Bündnispflichten des Dreibundes, M.S.) wandeln sich aber, nach der eigenmächtigen Kriegsprovokation Österreichs, in eine 'Pflicht' für Deutschland, sich gleichfalls in das Blutmeer kopfüber zu stürzen, sobald das verbrecherische Treiben Österreichs den russischen Bären auf den Kampfplatz wird herausgelockt haben. Und ebenso soll Frankreichs Volk an die Schlachtbank geschleppt werden, sobald und weil der russische Zarismus, gepeitscht durch die Erinnyen der Revolution im Innern und die Furien des Imperialismus in seiner auswärtigen Politik, zwischen den Speeren die Rettung oder den Untergang suchen wird.«(25)

    Hier ist exakt der Ablauf der äußeren Ereignisse beschrieben, wie er dann stattfand, nur mit dem Unter-schied, daß die deutsche Öffentlichkeit und auch die überwiegende Mehrheit der deutschen Sozialisten, nachdem Rußland am 30. Juli die Generalmobilmachung verkündete, die »Pflicht« Deutschlands, auf Seiten Österreichs in den Krieg einzutreten nicht in Anführungsstriche setzten, sondern nun davon ausgingen, Deutschland habe sich gegenüber Rußland zu verteidigen.

    In dieser gegenüber dem 25. Juli vollständig veränderten Situation, in der die Sozialdemokraten noch hofften, daß der Konflikt auf den Balkan begrenzt bleiben würde, entschied sich die sozialdemokratische Führung, einen Verteidigungskrieg zu unterstützen. In der Erklärung von Hugo Haase, mit der die Fraktion im Reichstag ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten begründete, lauteten die entscheidenden Sätze:

    »Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat (lebhafte Rufe »Sehr wahr!« bei den Sozialdemokraten), viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. (Erneute Zustimmung.) Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. (»Bravo!«)
    Da machen wir wahr, was wir immer betont haben. Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. (Lebhaftes »Bravo!«) Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat (»Sehr richtig!« bei den Sozialdemokraten.), wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen. (»Sehr gut!« bei den Sozialdemokraten.)(26)

    Diese Entscheidung der Sozialdemokratie, im guten, wenngleich falschen Glauben, einen Verteidigungskrieg zu unterstützen, entsprach ihrer Tradition. Schon 1870 stimmten die drei Sozialdemokraten des All-gemeinen deutschen Arbeitervereins in der Einschätzung, Preußen müsse sich eines Angriffs Frankreichs erwehren, für die Kriegskredite, während Bebel und Liebknecht von den Eisenachern in der Einschätzung, dies sei ein rein »dynastischer Krieg«, sich der Stimme enthielten. Erst als der deutsch-französische Krieg offenkundig in einen deutschen Eroberungskrieg umschlug, stimmten die Sozialdemokraten geschlossen gegen die Kriegskredite.

    Die Zustimmung der Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten 1914 war trotz dieser Tradition nicht zwin-gend. Denn es entsprach ebenso gut einem sozialdemokratischen Grundsatz, der Regierung prinzipiell alle Mittel zu verweigern. Dieser Grundsatz hatte sogar besonders große Bedeutung, weil die Sozialdemokra-ten glaubten, damit ihre »Todfeindschaft« zum bestehenden undemokratischen System am besten unter Beweis stellen zu können. Dass sich in der fraktionsinternen Abstimmung dann nur 14 Abgeordnete fanden, die den Kriegskrediten nicht zustimmen wollten, scheint in erster Linie dem Umstand geschuldet, daß ein Bekenntnis zur Verteidigung nur schwer vermittelt werden konnte mit der Entscheidung, dem Vaterland die Mittel zu seiner Verteidigung zu verweigern.(27)

    Die Zustimmung der 14 Neinsager im Reichstag wird meistens mit dem Hinweis auf die Fraktionsdisziplin erklärt. Diese Erklärung wäre jedoch nur dann verständlich, wenn auch diese 14 Neinsager davon überzeugt waren, Deutschland habe sich zu verteidigen. Kaum vorstellbar wäre es, daß so integere Personen wie Hugo Haase, Georg Ledebour oder Karl Liebknecht in der Überzeugung, Deutschland sei auf imperia-listische Eroberungen aus, sich der Fraktionsdisziplin gebeugt hätten und aus diesem vergleichsweise lächerlichen Grund einem »imperialistischen Raubkrieg« ihre Zustimmung gegeben hätten. Hier könnte dann mit Fug und Recht von einem Prinzipienverrat gesprochen werden.

    Erst als Karl Liebknecht - und später andere - die Überzeugung gewannen, Deutschland führe keinen Verteidigungskrieg, brachen sie die Fraktionsdisziplin und stimmten gegen die Kriegskredite.

     

  • Die Massen

    Die falsche, aber subjektiv ehrliche Annahme, Deutschland habe sich vor allem gegen einen Angriff des russischen Zarismus zu verteidigen, war für die Entscheidung der Sozialdemokratie grundlegend und erklärt diese Entscheidung wesentlich. Es mag sein, daß sie nicht für alle Fraktionsmitglieder gleichermaßen bedeutsam war, und nicht zu leugnen ist, dass sich auch noch andere Überlegungen damit verbanden. Alle ernst zu nehmenden anderen Erklärungsansätze für das Verhalten der Sozialdemokratie in den ersten Augusttagen 1914 beruhen jedoch auf dieser Einschätzung.

    Eine Erklärung für den »Meinungsumschwung« in der Frage, wie man sich bei der Abstimmung über die Kriegskredite verhalten solle, lautet, daß die beginnende Kriegsbegeisterung auch die sozialdemokratischen Massen erfaßt habe und die Parteiführung schließlich nur nach dem opportunistischen Grundsatz »lieber mit Massen irren als gegen sie recht haben« dem Druck von unten folgte. Für diese These, daß die Führer gegen besseres Wissen gehandelt hätten, lassen sich jedoch keine stichhaltigen Belege erbringen.

    Allenfalls Clara Zetkin - die Redakteurin der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit - scheint diesem Verhaltensmuster entsprochen zu haben, als sie einen Protest gegen die Reichstagsfraktion mit der Begründung ablehnte, daß dies »von Niemand verstanden« und nur zeigen würde, wie die Protestierer »völlig isoliert in der Luft stehen«.(28) Unbestritten ist, daß zum gleichen Zeitpunkt, als die Sozialdemokratie gegen den drohenden Krieg demonstrierte, eine sich steigernde, massenhafte chauvinistische Kriegsbegeisterung entstand. Gegen die Umzüge dieses »patriotischen Mobs«, dem nach Einschätzung des Vorwärts keine Arbeiter angehörten, verwahrte sich die Sozialdemokratie energisch. Franz Jung vermittelt in seinem autobiographischen Roman ein Bild von dieser Stimmung in Berlin:

    »Die Straße Unter den Linden zu beiden Seiten entlang zum Schloss zog eine nach Tausenden zählende Menge hin und her, unter infernalischem Gebrüll, woraus ein Reporter die Wacht am Rhein herausgehört haben wird. Auch in der Erinnerung heute fast unvorstellbar. War das Ende der Welt gekommen?
    Zum mindesten stürzte eine Welt zusammen über die paar Dutzend Friedensdemonstranten, in die ich hinein geraten war. Soviel ich mich erinnere, war diese Demonstration von den Syndikalisten um Kater und Rocker aufgezogen worden. Ein Transparent, über zwei Stangen gespannt, wurde hochgehoben, eine rote Fahne entfaltet, und die Demonstration: Nieder mit dem Krieg! begann sich in Reihen zu ordnen. Wir sind nicht weit gekommen.
    Ich glaube nicht, daß besondere Gewalt angewendet worden ist; die Flut ging über uns weg, wir trieben vereinzelt und auseinandergerissen in dieser Flut, jeder wahrscheinlich unfähig, sich zu wehren, sich überhaupt zu rühren. Polizei hatte nicht nötig einzugreifen.«(29)

    Eine Reaktion von Fabrikarbeitern schildert Karl Retzlaw:

    »Ich kann mich nicht entsinnen, von ihnen einen Protest gegen den Krieg gehört zu haben ... Man sprach über den Krieg wie etwa über ein Erdbeben, man nahm ihn hin wie ein Naturereignis ... Aber der Ausspruch Bebels, daß er, wenn es gegen den russischen Zarismus gehe, auch das Gewehr ergreifen werde, war beinahe bei allen bekannt.«(30)

     

  • Sieg oder Niederlage

    Wahrscheinlich spielte die Frage nach den Ursachen und dem Charakter des Krieges für viele von dem Augenblick an, als der Krieg eine vollendete Tatsache war, keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle:

    »Solange die Frage lautete: Krieg oder Frieden, wandten sie (die Volksmassen, M.S.) sich energisch gegen den Krieg. Als er aber doch gekommen war, als die Frage nur noch lautete: Sieg oder Niederlage, riefen dieselben, die eben noch gerufen hatten: wir müssen den Frieden erhalten, mit der gleichen Entschiedenheit: wir müssen siegen. Das Vaterland der Invasion, die Armee der Niederlage, das heißt der Vernichtung preisgeben, das wäre ihnen unfaßbar erschienen.«(31)

    Und in der "Gewerkschaft", dem Organ des Verbandes der Gemeinde- und Staatsarbeiter, hieß es:

    »Kollegen! Der Krieg ist ausgebrochen, und es erübrigt sich, in diesem Augenblick und an dieser Stelle zu erörtern, was hätte geschehen können, um ihn zu verhindern.«(32)

    Vor allem in den Reihen der Gewerkschaften war schon vor 1914 ein solches Verständnis verbreitet. Hier verband es sich sogar teilweise mit einem gänzlich fragwürdigen wirtschaftlichen Nützlichkeitsdenken. Besonders ungeschminkt referierte Gustav Bauer, der stellvertretende Vorsitzende der Generalkommission, einmal diese Position:

    »Die Kriegsfrage ist kein prinzipielles, sondern ein taktisches Problem. Es gilt für das Proletariat der einzelnen Länder abzuwägen, ob der Krieg Vorteil bringen könne oder nicht und danach ist ihr Verhalten einzurichten ...
    Jeder Proletarier weiß oder fühlt es, oder es wird ihm schon von den Vertretern der bürgerlichen Parteien erzählt, daß mit dem Siege der Kapitalisten seines Landes dessen Industrie emporblühen werde, daß es ihm damit auch relativ besser gehe, daß er mehr Lohn erringen könne, daß die Arbeitslosigkeit sinken werde und so weiter.«(33)

    Ohnehin gehörten die Gewerkschaftsführer zu den stärksten Gegnern einer verbindlichen Absprache, was im Falle eines Krieges von seiten der Sozialdemokratie getan werden solle, auch wenn sie auf den internationalen Sozialisten-Kongressen die Wortführung den Parteileuten überließen und in den internationalen Gewerkschaftsorganisationen die Diskussion solcher »politischer« Fragen ausklammerten. Eine Verpflichtung zum Massenstreik gar wurde von ihnen entschieden abgelehnt. Als dieser Vorschlag 1911 gemacht wurde, um der deutschen Regierung in den Arm zu fallen, als diese mit der Entsendung eines Kriegsschiffes nach Agadir (»Panthersprung nach Agadir«) ihren Anspruch auf Kolonien provokatorisch demonstrierte, gab dies auf dem anschließenden Parteitag eine heftige Debatte. Vor allem Bebel referierte nochmals alle Argumente, die gegen einen Massenstreik zur Verhinderung eines drohenden Krieges sprachen, wobei er nach Meinung der Generalkommission »der Generalstreiksidee tödliche Hiebe versetzte.«(34)

    Hinter dieser Haltung stand die seit dem Sozialistengesetz nicht überwundene Angst, die Organisationen könnten wieder verboten werden, und deshalb verweigerte man strikt, sich auf Aktionsmittel festlegen zu lassen, die ein Verbot der Organisationen erwarten ließen. Bei der überragenden Bedeutung, die deutsche Sozialdemokraten ihren Organisationen beimaßen, darf angenommen werden, daß eine latente unkritische Neigung bestand, im unübersichtlichen Konfliktfalle eher einer Einschätzung zu folgen, die keine organisationsgefährdende Politik verlangte. Trotzdem läßt sich die These, daß für Sozialdemokraten und Gewerkschafter die »Furcht vor der Strenge des Kriegsrechts hätten genügen können, um die Abstimmung für die Kriegskredite zu entscheiden«,(35) nicht belegen und sie ist auch wenig wahrscheinlich.

    Es verwundert jedoch nicht, daß auf der Vorständekonferenz am 2. August über die Ursache und Verant-wortlichkeit für den Krieg überhaupt nicht mehr diskutiert wurde. Es verstand sich für die Gewerkschaftsführer offenbar von selbst, für einen Sieg Deutschlands alles in ihren Kräften stehende zu tun. Die weit überwiegende Mehrheit von ihnen gehörte dann auch während der gesamten Dauer des Krieges zu den härtesten Durchhaltepolitikern.

    Das Denken in der Alternative Sieg oder Niederlage findet sich - nach der Kriegserklärung am 1. August - fast durchgängig in den Kommentaren der Gewerkschaftszeitungen. Die "Bergarbeiterzeitung" ist dafür ein eher noch zurückhaltendes Beispiel:

    »Wir ersehnen mit Millionen und Abermillionen heißen Herzens die rasche Wiederkehr des Friedens herbei. Doch können und können wir nicht wünschen, daß Kosakentum und echtrussisches Knutenregiment den Sieg über Deutschland davonträgt!
    Diesen Sieg zu verhindern, heißt auch den Lebensinteressen der freigewerkschaftlich organisierten Arbei-ter dienen. Schlagen wir den Zarismus nicht, dann schlägt er uns! So ist jetzt die Situation.«(36)

    Schon einiges schärfer formulierte es die "Metallarbeiter-Zeitung":

    »Der Vorwand zu Englands Kriegserklärung ist von lächerlicher Fadenscheinigkeit; man will der deutschen Industrie einen Schlag versetzen, der sie auf Jahrzehnte hinaus am Wettbewerb mit der englischen Industrie hindert.
    Feinde ringsum! Aber Bange machen gilt nicht und das ganze deutsche Volk ist entschlossen, alles aufzubieten, um den Sieg zu erringen ...
    Wir sind nicht schuld, an dem Unheil, von dem Deutschland auf jeden Fall betroffen wird. Weil aber im Falle der Niederlage das Massenelend noch viel schlimmer werden würde, deshalb wünschen wir nicht nur den Sieg, sondern tun auch alles, um ihn an unsere Fahnen zu heften«.(37)

    Vergleichsweise zurückhaltend ist hingegen die "Gewerkschaft". Es beschreibt die voraussichtlichen Folgen des Krieges - wie sich herausstellen sollte -, eher unrealistisch ("Was soll werden, wenn der Krieg Wochen, ja sogar Monate andauert?"), der Beschluß zum "Burgfrieden" wird wie folgt verkündet: "Die §§ 15 und 16 des Statuts sind während des Krieges außer Kraft gesetzt. Gemaßregelten- und Streikunterstützung ist also von heute ab nicht mehr auszuzahlen"(38) und die Thronrede des Kaisers wird kommentarlos abgedruckt. Jedoch wird in der gleichen Ausgabe auf das Erscheinen der Broschüre "Luxemburg-Prozeß und Soldatenmißhandlungen" hingewiesen. Der Gewerkschaft geht es vor allem um den Bestand der Organisation: "Steht treu zum Verbande!" lautete ihre Botschaft an die Mitglieder. Im Vordergrund stehen die eher undramatischen, doch gleichwohl grundlegenden Alltags-Fragen gewerkschaftlicher Interessenvertretung, nämlich die materielle Existenzsicherung ihrer Mitglieder. Die Verbandsführung kümmert sich sogleich um Fragen der "Lohnfortzahlung" und ander-weitige materielle Unterstützung für die Familien der eingezogenen Mitglieder, die von einigen Kommunen - z.B. Nürnberg und Mannheim - für die städtischen Arbeiter sogleich zugestanden wurde.

    Am 14. August wendete sich der Leitartikel gegen die von der "Skandalanzeigerpresse" geschürte Hysterie und patriotische Kriegsraserei. Zwar heißt es auch hier, daß die "deutsche Arbeiterklasse die schwere Pflicht erkannt" habe, "unser Land zu verteidigen gegen russische Barbarei und Kosakentum." Jedoch werden die Mitglieder davor gewarnt, "in jedem Feinde einen Barbaren oder Halunken" zu erblicken.

    "Wir wollen und sollen unseren Verteidigungskrieg mit ernster Entschlossenheit und würdiger Besonnenheit führen, die dieser Situation entspricht, nicht aber wollen wir uns gemein machen mit jenen hurrabrüllenden Radaupatrioten, ... Es muß Ehrensache jedes durchgebildeten Gewerkschafters sein, sich solchen Dingen fernzuhalten .... England, Frankreich und Belgien haben eine hochstehende Kultur und es ist nur durch das jahrzehntelange Wettrüsten aller europäischen Staaten und viele andere unsinnige, von uns oft gegeißelte Dinge zur Not erklärbar, daß sie mit dem absolutistischen Rußland sich verbündet haben. Andererseits führen wir keinen Eroberungskrieg, ... Wir wollen unsere Ideale, die Demokratie, den Frieden und die Völkergemeinschaft nach dem Kriege wieder pflegen,...".(39)

     

  • Vaterlandslose Gesellen

    Die sich nach Bekanntwerden der russischen Generalmobilmachung zeigende, teilweise ungehemmte Be-reitschaft von Sozialdemokraten, den Krieg zu unterstützen, hat sicherlich auch eine psychologische Ursache. Die im Kaiserreich systematisch als »vaterlandslose Gesellen« diffamierten Sozialdemokraten, ihre über diesen Kampfbegriff betriebene gesellschaftliche und nationale Ausgrenzung durch die politische Rechte wurde als tiefe Kränkung empfunden. Die Sozialdemokraten reagierten darauf hilflos, d. h. mit oft überzogenen patriotischen Bekenntnissen. Dieser Versuch, sich als die besseren Patrioten darzustellen, war wenig erfolgreich. Die Erklärung des Kaisers »Ich kenne keine Parteien mehr, Ich kenne nur Deutsche« kam einer psychologischen Überrumpelung gleich, die selbst bei den linken Sozialdemokraten ein Umkippen in nationalistische Begeisterung auslöste. Konrad Haenisch ist hierfür das klassische Beispiel:

    »Leicht ist dies Ringen zweier Seelen in der einen Brust wohl keinem von uns geworden ... um alles in der Welt möchte ich jene Tage inneren Kampfes nicht noch einmal durchleben! Dieses drängend heiße Seh-nen, sich hineinzustürzen in den gewaltigen Strom der allgemeinen nationalen Hochflut und von der ande-ren Seite her die furchtbare seelische Angst, diesem Sehnen rückhaltlos zu folgen, . . . Bis dann - ich ver-gesse den Tag und die Stunde nicht - plötzlich die furchtbare Spannung sich löste, bis man wagte, das zu sein, was man doch war, bis man zum ersten Male (zum ersten Male seit fast einem Vierteljahrhundert wieder!) aus vollem Herzen, mit gutem Gewissen und ohne jede Angst, dadurch zum Verräter zu werden, einstimmen durfte in den brausenden Sturmgesang: Deutschland, Deutschland über alles!«(40)

    Häufiger als dieser nationalistische Überschwang scheint ein patriotisches Pflichtbewußtsein gewesen zu sein, wie es in folgender Erklärung für das Verhalten der sozialdemokratischen Arbeiter formuliert ist:

    »Die Millionen sozialistischer Arbeiter wollten sich bei diesem Anlaß nicht vom Volke trennen, zu dem sie gehörten, und das sie immer mehr für sich gewinnen wollten. Das Volk hatte doch den Krieg zu führen und zu erdulden, da musste man bei ihm stehn, nicht aber es schädigen und gegen es kämpfen, indem man der Regierung den Gehorsam verweigerte. Die Sozialisten hatten plötzlich genug des Zwistes. Sie wollten mit dem ganzen Volk gehen, sich mit ihm noch enger verbünden, und dann auch ihre Ziele leichter mit ihm zusammen erreichen.«(41)

    Neben einem mehr oder weniger gesteigerten Patriotismus stand das kühle Abwägen einiger exponierter Revisionisten wie Eduard David oder Wolfgang Heine, die die Rücknahme der nationalen Ausgrenzung der Sozialdemokratie durch den Kaiser als große Chance für reformistische zukünftige Politik begriffen und das Zeitalter des Revisionismus anbrechen sahen. Eine Ablehnung der Kriegskredite kam ihnen auch oder so-gar vor allem aus diesem Grunde nicht in den Sinn.

    Ähnliche Gründe mögen auch für die Haltung der Gewerkschaftsfunktionäre in der Reichstagsfraktion eine Rolle gespielt haben. Es war dabei vielleicht nicht so sehr die Rücknahme der nationalen Ausgrenzung entscheidend, als vielmehr die so lang und heiß ersehnte Anerkennung der Gewerkschaften durch den Staat. So jedenfalls durfte die sich anbahnende Zusammenarbeit mit dem Reichsamt des Innern bei der Organisierung der Ernteeinbringung interpretiert werden. Die Angst, daß die gewerkschaftlichen Organisa-tionen erneut einem staatlichen Verbot ausgesetzt werden konnten, begann zu weichen. Ganz trauten die Gewerkschaftsführer dem Burgfrieden im Kriege jedoch noch nicht, wie die teilweise Überweisung der Kassenbestände auf sichere Konten zeigt.

     

  • Verrat?

    Die Entscheidung, besonders der deutschen und französischen Sozialisten, den Krieg ihrer Länder als einen Verteidigungskrieg zu unterstützen, führte dazu, daß die einen den jeweils anderen einen Verrat an den Beschlüssen der Internationale vorwarfen. Die deutschen Sozialdemokraten konnten in der Bereitschaft der Franzosen, Rußland zu unterstützen, ebenso wenig einen Verteidigungsfall erkennen wie umgekehrt die Franzosen im Beistand der Deutschen für Österreich, das offenkundig den Krieg mit Serbien provoziert hatte. Jede verlangte von der anderen Partei, daß sie den Krieg ihrer jeweiligen Regierungen hätte bekämpfen müssen.

    Eine andere Begründung hatte die Verratsthese von Rosa Luxemburg gegenüber allen Sozialisten, die den Krieg unterstützten. Ihrer Meinung nach gab es im Zeitalter des Imperialismus keine nationalen Kriege mehr, die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg sei hinfällig geworden.

    Mit dieser Einschätzung kann jedoch eine Verratsthese nicht begründet werden, weil die sozialistische In-ternationale sich zweifelsfrei zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen und zum Recht, diese Selbständigkeit auch zu verteidigen, bekannte. Der Verratsvorwurf von Lenin wiederum gründete sich darauf, daß er weder für Deutschland noch für Frankreich oder irgendein anderes am Krieg beteiligtes Land einen nationalen Verteidigungsfall erkennen konnte.

    Vor allem in der verflossenen marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung wurde die Verratsthese bis zu ihrem Ende 1989 hinein gepflegt. Allerdings mied man in den letzten Darstellungen das böse Wort Verrat. Hieß es noch in der 1966 erschienenen »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«: »Die rechte sozialdemokratische Führung verriet die deutsche Arbeiterklasse und ihre ruhmreichen Traditionen«, so lautet das Urteil in der 1988 veröffentlichten »Geschichte der SED« folgendermaßen:

    »Unter dem Vorwand patriotischer Pflichterfüllung bewilligte die sozialdemokratische Reichtagsfraktion dem deutschen Imperialismus die finanziellen Mittel zur Führung seines aggressiven imperialistischen Raubkrieges. Damit handelten die opportunistischen Führer in der Sozialdemokratie und in den freien Gewerkschaften gegen die Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen, gegen die Beschlüsse für den revolutionären Antikriegskampf«.(42)

    Einem solchen Urteil wird dadurch Plausibilität verliehen, daß das uneingeschränkte Bekenntnis der Sozialdemokratie zur Vaterlandsverteidigung, die grundsätzlichen Beschlüsse der Internationale zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen und die Überzeugung, Deutschland führe einen Verteidigungskrieg, ausgeblendet werden.

    Eine ähnliche Geschichtsklitterung liegt vor, wenn nicht nur ein Prinzipienverrat, sondern auch noch ein Verrat der sozialdemokratischen Führer an angeblich zum Kampf gegen den Krieg bereiten Massen behauptet wird. Zum Beweis werden die Antikriegsdemonstrationen (zu denen der Parteivorstand aufgerufen hatte) der Zustimmung zu den Kriegskrediten unvermittelt gegenübergestellt, ohne daß die grundlegend veränderte Situation zwischen dem österreichischen Ultimatum und der russischen Generalmobilmachung erwähnt wird.

     

  • Versäumnisse und Versagen

    Die Geschichte und die Lehre, die daraus zu ziehen ist, wären natürlich sehr einfach, wenn die Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion am 4. August als Verrat von Führern erklärt werden könnte.

    Stimmt man jedoch der Erklärung zu, daß die Sozialdemokratie im August 1914 getäuscht wurde, als sie für die Verteidigung des Vaterlandes eintrat, und akzeptiert das Recht auf Selbstverteidigung der Nationen als Grundlage sozialistischer Politik, dann beginnt die Kritik bei der Frage, warum die Sozialdemokraten so leicht zu täuschen waren: In der kritiklosen Übernahme der imperialistischen Bündnislogik scheint mir dann das große Versäumnis der deutschen (und der französischen) Sozialdemokraten und der Internationale zu liegen. Als sich die maßgeblichen Führer der Internationale am 29. und 30. Juli in Brüssel trafen Österreich hatte bereits den Krieg an Serbien erklärt - beteuerten sich Jaurès und Haase gegenseitig die friedlieben-den Absichten ihrer Regierungen. Der Mechanismus des Bündnissystems, wie ihn Rosa Luxemburg einen Tag vorher noch beschrieben hatte, wurde auch jetzt nicht diskutiert. Wenn es einen Ort gab, an dem sich die Sozialisten noch auf eine gemeinsame Politik hätten verständigen können, dann war es hier. An die Radikalität der Franzosen, die sie auf den vergangenen internationalen Kongressen demonstriert hatten, an die scharfen Reden über Massenstreik, Militärstreik und Aufstand wagte niemand zu erinnern auch nicht die gleichfalls anwesende Rosa Luxemburg. Statt dessen verlegte man den nächsten Kongreß von Wien nach Paris und ging unverrichteter Dinge wieder auseinander.(43)

    Die Internationale erwies sich nun als das, was sie gewesen ist: »alle paar Jahre prunkvolle Kongresse, schöne Reden, Feuerwerke der Begeisterung, dröhnende Manifeste und kühne Resolutionen«. (Rosa Luxemburg)

    Findet die Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4. August unter den angeführten Umständen eine Erklärung in der Tradition der Sozialdemokratie, so nicht das Verhalten der Fraktion zum Überfall der deutschen Truppen auf das neutrale Belgien. Es war ein moralisches und politisches Versagen, dagegen nicht protestiert und zur Rechtfertigung des Reichskanzlers, »Not kennt kein Gebot«, geschwiegen zu haben. Immerhin gab es wenigstens einen Abgeordneten, den Vorsitzenden der Schuhmachergewerkschaft Josef Simon, der sich diese Moral der deutschen Reichsführung nicht zu eigen machen wollte und der deshalb vor der Abstimmung über die Kriegskredite unbemerkt den Plenarsaal verließ. Dieser bescheidene Protest blieb allerdings politisch bedeutungslos, weil Josef Simon erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in seinen Lebenserinnerungen diese Tat zu gestehen wagte.(44)

    Für die deutschen Sozialdemokraten, die in einem politischen System lebten, in dem die Regierung dem Kaiser verantwortlich und in der die Volksvertretung von der zentralen Entscheidung über Krieg und Frieden ausgeschlossen war, kommt das Versäumnis hinzu, wenig getan zu haben, um wenigstens Einfluß auf diese Entscheidungsstruktur zu bekommen. Bevor es zum Ernstfall kam, wäre vielfach Gelegenheit gewesen, glaubwürdig zu drohen, sich unter dieser Voraussetzung nicht für die Finanzierung eines Krieges einspannen zu lassen.

    Die »weltgeschichtliche Katastrophe« (Rosa Luxemburg) vom 4. August wäre jedoch vergleichsweise gering gewesen, wenn die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften, als offenkundig wurde, daß Deutschland keinen Verteidigungskrieg führt, ihre Haltung korrigiert hätten. Eine alternative Politik, die die Kriegskredite verweigert und Taten zur Beendigung des Krieges verlangt hätte, wie sie die Opposition um Hugo Haase, Eduard Bernstein und Karl Kautsky einschlug, war möglich. Statt dessen blieb die sozialdemokratische Mehrheitsfraktion und die große Mehrheit der Gewerkschaftsführungen während des ganzen Krieges treu bei der Fahne der Regierung und brachte nicht einmal die Kraft auf, gegen den »Raubfrieden« von Brest-Litowsk zu stimmen, der Rußland die Abtretung riesiger Gebiete diktierte.

     

Anmerkungen

1 Der offizielle Beschluß, Angriffsstreiks einzustellen, wurde erst in der Sitzung der Vorständekonferenz vom 17. Au-gust gefaßt. Vgl.: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 1, Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914-1919, bearbeitet von Klaus Schönhoven, Köln 1985.
2 Vgl.: Hans-Joachim Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914-1920, Hamburg 1981, S. 79.
3 Zitiert nach: Karl Dietrich Erdmann, Hat Deutschland auch den Ersten Weltkrieg entfesselt? Kontroversen zur Politik der Mächte im Juli 1914, in: Karl Dietrich Erdmann/Egmond Zechlin, Politik und Geschichte, Europa 1914 - Krieg o-der Frieden, Hg.: Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein, Kiel 1985, S. 45.
4 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 196 1, zitiert nach Nachdruck der Sonderausgabe, Kronberg/Ts. 1977, S. 82.
5 Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus, Frankfurt-Berlin-Wien 1973.
6 Vgl.: Immanuel Geiss, die Fischer- Kontroverse, in: Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft, Frank-furt/M. 1972.
7 Wilhelm 11, Thronrede, 4. August 1914, Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. 11. Session, Bd. 306. Stenographische Berichte, Berlin 1916, S. 2.
8 Reichskanzler v. Bethmann Hollweg, Rede in Reichstagssitzung am 4. August 1914, zitiert nach: ebenda, S.5.
9 Verhandlungen und Beschlüsse des Internationalen Arbeiter-Kongresses zu Brüssel (16.-22. August 1891), zitiert nach: Kongress-Protokolle der Zweiten Internationale, Bd. 1, Paris 1889 - Amsterdam 1904, Glashütten im Taunus 1975, S. 27.
10 Ebenda.
11"Die notwendige Folge dieser unserer Überzeugung war die Anerkennung des unveräußerlichen Rechtes jeder
Nation, ihre Unabhängigkeit gegen jeden Angriff von außen zu verteidigen.(Beifall) Zit. nach: Manfred Scharrer, Or-ganisation und Vaterland - Gewerkschaften vor dem Ersten Weltkrieg, Köln 1990, S.199.
12 Vgl. Manfred Scharrer, Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung, Stuttgart 1985, S. 19 ff.
13 Internationaler Sozialsiten-Kongreß zu Stuttgart, 18. bis 24. August 1907, Berlin 1907, S. 86.
14 Ebenda, S. 87.
15 Ebenda, S.
16 Ebenda, S.
17 Ebenda, S. 100.
18 Ebenda, S. 66
19 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. XI. Legislaturperiode. I. Sessionsabschnitt,
1903/1904, Zweiter Band. Bd. 189, Berlin 1904.
20 Vgl.: Protokoll Parteitag 1907, S. 255.
21 Vgl. besonders: Dieter Groh, Negative Integration, a.a.O., S. 429ff.
22 Protokoll Parteitag 1907, S. 261
23 Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der SPD, Nr. 200a, Extra-Ausgabe, 25. Juli 1914.
24 Rosa Luxemburg, Der Friede, der Dreibund und wir, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 477.
25 Ebenda.
26 Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. II. Session. Stenographische Berichte. Bd. 306, Berlin 1916.
27 Vgl. dazu: Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf, Düsseldorf 1974.
28 Zit.n. Jürgen Kuczynski, Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die Deutsche Sozialdemokratie - Chronik und
Analyse, Berlin (DDR) 1957.
29 Franz Jung, Der Torpedokäfer, Neuauflage von: Der Weg nach unten, Neuwied 1972, S. 96.
30 Karl Retzlaw, Spartacus - Aufstieg und Niedergang, Frankfurt/M. 197 1, S. 28 f.
31 Karl Kautsky, Wirkungen des Krieges, in: Die Neue Zeit, 2. Bd., Nr. 23, 25. Sept. 1914, S. 975.
32 Die Gewerkschaft, Nr. 32 vom 7. August 1914.
33 Zitiert nach Dieter Grob, a. a. 0., S. 604f.
34 Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands., Nr. 28 vom 23. 11. 1911.
35 Carl E. Schorske, Die Große Spaltung. Die Deutsche Sozialdemokratie 1905-1917, Berlin 1981, S.364.
36 Bergarbeiter-Zeitung, Nr. 32 vom 3. g. 1914.
37Metallarbeiter-Zeitung, Nr. 33 vom 15. August 1914.
38 Die Gewerkschaft, Nr. 32 vom 7. August 1914.
39 Die Gewerkschaft, Nr. 33 vom 14. August 1914.
40 Konrad Haenisch, Die deutsche Sozialdemokratie in und nach dem Weltkriege, Berlin 1916.
41 Wilhelm Muehlon, Die Verheerung Europas. Aufzeichnungen aus den ersten Kriegsmonaten von August bis No-vember 1914, in: Wilhelm Muehlon, Ein Fremder im eigenen Land. Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen ei-nes Krupp-Direktors 1908-1914, Hg. und eingeleitet von Wolfgang Benz, Bremen 1989, S. 107.
42 Geschichte der SED, Hg.: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (DDR) 1988.
43 Vgl.: Georges Haupt, Der Kongreß fand nicht statt. Die Sozialistische Internationale 1914, Wien-
Frankfurt-Zürich 1967 und: Jürgen Rojahn, Um die Erinnerung der Internationale: Rosa Luxem-burg contra Pieter
Jelles Troelstra, in: International Review of Social History, Vol. XXX (1985), Part. 1.
44 Adolf Mirkes (Hg.), Josef Simon. Schuhmacher, Gewerkschafter, Sozialist mit Ecken und Kanten, Köln 1985, S. 102.