Nicht nur Deutschland ist vereint, auch die Gewerkschaften aus Ost- und Westdeutschland sind es. Die Delegierten der Kongresse und Gewerkschaftstage beschließen mit überwältigenden Mehrheiten, oft einstimmig, was in den letzten Wochen von Vorständen und Arbeitsgruppen aus BRD und DDR geregelt worden war. Die Ergebnisse der Wahlen zu Personalräten und Jugend- und Auszubildendenvertretungen und die Tarifabschlüsse zeigen: Die Gewerkschaften sind gut aufgestellt für ihre Arbeit im vereinten Deutschland.
1. Oktober 1990
Die Wahlen zu den Jugend- und Auszubildendenvertretungen beginnen - zum ersten Mal in Ostdeutschland.
Die Mitglieder der IG Druck und Papier und der Gewerkschaft Kunst, Kultur, Medien sind ab heute Mitglieder der IG Medien - Druck und Papier, Publizistik und Kunst.
Sabine Schöneburg, bisher Sekretärin und stellvertretende Vorsitzende der Fachgruppe Theater in der Gewerkschaft Kunst, Kultur, Medien, nimmt ihre Arbeit als Bundesfachgruppensekretärin der Fachgruppe Darstellende Kunst der IG Medien auf. Sie ist eine von 58 Beschäftigten aus den Gewerkschaften, die von der IG Medien zum 1. Oktober übernommen werden, 29 davon Funktionsträgerinnen und -träger.
3. Oktober 1990
Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes ist die deutsche Einheit erreicht.
Ab heute gilt die Satzung der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) in ganz Deutschland - statt erst ab 1. November, wie zunächst geplant. Die vierzehn Beratungsbüros in den Bezirksstädten, seit Juni auch Verwaltungsstellen der Gewerkschaft ÖTV in der DDR, werden zu Kreisverwaltungen der ÖTV: in Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Potsdam, Frankfurt/Oder, Cottbus, Magdeburg, Halle, Erfurt, Gera, Suhl, Leipzig, Dresden und Chemnitz. Die Grenzen der Kreisverwaltungen werden entsprechend dem Zuschnitt der neuen Bundesländer korrigiert. Im Herbst beginnt der demokratische Aufbau der Bezirke. Bis dahin werden ihre Interessen gegenüber Landtagen und Landesregierungen übergangsweise von westdeutschen ÖTV-Bezirken vertreten. Das ÖTV-Magazin, Mitgliederzeitschrift der ÖTV, wird ab heute in Ost- und Westdeutschland an alle Mitglieder verschickt.
4. Oktober 1990
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert die sofortige Mobilisierung der Nachfrage der öffentlichen Haushalte, um dem vorhersehbaren dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit in den ostdeutschen Bundesländern entgegenzuwirken.
Die Gewerkschaft ÖTV und die Arbeitgeber nehmen Tarifverhandlungen auf für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in den fünf neuen Bundesländern, die nach dem "Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der DDR" zum 14. Oktober 1990 gebildet werden: Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen; Berlin (Hauptstadt der DDR) erhielt Landesbefugnisse. Die ÖTV fordert die Übernahme manteltariflicher Regelungen, die schrittweise Überleitung in das tarifvertragliche Bezahlungssystem der Bundesrepublik Deutschland und ein Abkommen zum Schutz gegen Arbeitslosigkeit und Einkommensverluste.
6. Oktober 1990
In der Ost-Berliner Kongresshalle (früher "Haus der Lehrer") am Alexanderplatz findet die erste gesamtdeutsche Konferenz der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) statt. Vertreterinnen und Vertretern aller DAG-Gliederungen aus Ost- und Westdeutschland beraten zur Zukunft der DAG nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
"Ich grüße euch alle in unserem 'einig Vaterland'" in: DAG-Journal November 1990, S. 12 (pdf-Datei) mehr...
9. Oktober 1990
Die ÖTV kann für die Beschäftigten in der Energiewirtschaft in den neuen Bundesländern ein ganzes Paket von sechs neuen Tarifverträgen abschließen, u. a. einen Manteltarifvertrag rückwirkend zum 1. Juli 1990 und einen Übergangs-Vergütungstarifvertrag.
Vor der Großen Tarifkommission der ÖTV für den öffentlichen Dienst sagt die ÖTV-Vorsitzende, Monika Wulf-Mathies, zur deutschen Einheit und ihren Folgen u. a., wenn die neuen Bundesländer nicht zum Hinterhof der bisherigen Bundesrepublik und zur Billliglohnenklave des reichen Westens werden sollten, seien die Gewerkschaften gerade jetzt in besonderer Weise gefordert.
11. Oktober 1990
Die für die Gewerkschaften hervorragenden Ergebnisse der Wahlen der Personal-, Jugend- und Auszubildendenvertretungen auf dem Gebiet der DDR sind nicht zuletzt ein Erfolg der Arbeit und Zusammenarbeit der Gewerkschaften in beiden deutschen Staaten.
12./13. Oktober 1990
Der erste und zugleich letzte Kongress der Ost-DPG benennt die Vertreterinnen und Vertreter für die Wahlen auf dem außerordentlichen Gewerkschaftstag der DPG Ende des Monats und beschließt Forderungen zur tariflichen Absicherung der Beschäftigten sowie die Auflösung der Organisation zum 31. Oktober 1990.
15./16. Oktober 1990
Bei den Tarifverhandlungen für die Beschäftigten der öffentlich-rechtlichen Sparkassen in den fünf neuen Bundesländern kann die ÖTV Verbesserungen gegenüber dem Abschluss im Juni durchsetzen. Wenige Tage später schließt der Arbeitgeberverband Sparkassen mit der HBV einen Anschlusstarifvertrag ab.
25./26. Oktober 1990
Der außerordentliche Gewerkschaftstag der IG Medien in Fellbach bei Stuttgart unter dem Motto "Solidarität in der Bewährung" ändert die Satzung und schafft damit die rechtlichen Voraussetzungen zur Bildung der IG Medien in ganz Deutschland.
Rund ein Fünftel der 200 000 Mitglieder der DDR-Schwestergewerkschaften und -verbände ist bereits Mitglied der IG Medien geworden, die damit ihre Mitgliederzahl von 190 000 auf 230 000 erhöht.
Drei neue Landesbezirke sollen gebildet werden: Sachsen, Sachsen-Anhalt-Thüringen und Berlin-Brandenburg. Mecklenburg und Vorpommern gehören zukünftig zum Landesbezirk Nord. Übergangsvorschriften regeln den Aufbau der IG Medien auf dem Gebiet der DDR und die Beteiligung ihrer Mitglieder an den Gremien.
Die Delegierten fordern den Erhalt und Ausbau der Gewerkschaftszeitung "Tribüne" und unterstützen die Forderungen eines Volksentscheid über die Verfassung des vereinigten Deutschlands, wie u. a. vom DGB-Bundeskongress beschlossen und im Aufruf "Verfassung mit Volksentscheid" vom 16. Juni 1990 formuliert.
26. Oktober 1990
Der Beirat der ÖTV beschließt Änderungen der Satzung mit Übergangsbestimmungen für das Gebiet der neuen Bundesländer und den Ostteil der Stadt Berlin sowie die Einberufung eines außerordentlichen Gewerkschaftstags am 14./15. Februar 1991 wegen der Ausdehnung des räumlichen Tätigkeitsbereichs der Gewerkschaft ÖTV auf die neuen Bundesländer.
28. Oktober 1990
Nach einem Verhandlungsmarathon von über 35 Stunden erreicht die IG Medien einen Abschluss bei den Tarifverhandlungen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage Deutschland-Ost. Es ist der erste Tarifabschluss der IG Medien Deutschland und es ist der erste, der einheitliche Gehalts- und Manteltarifstrukturen für Ost- und Westdeutschland festlegt. Die westdeutschen Tarifverträge aus dem Verlagsbereich werden für die neuen Bundesländer übernommen, es gibt zahlreiche sinnvolle Sonderregelungen. Die Übernahme von RTS-Tarifvertrag (Tarifvertrag über Einführung und Anwendung rechnergesteuerter Textsysteme von 1978) und weiteren sozialen Rechten wird von den ostdeutschen Arbeitgebern abgeblockt, obwohl sie sich im Juli 1990 dazu verpflichtet hatten. Dagegen protestieren am 8. November Betriebsräte aus deutschen Zeitungshäusern in einem offenen Brief an den Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger.
29./30. Oktober 1990
Der außerordentliche Kongress der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) in Berlin beschließt die notwendigen Satzungsänderungen für die Bildung einer DPG für das geeinte Deutschland zum 1. November 1990. Sie schaffen eine Gewerkschaft mit rund 576 000 Mitgliedern, rund 100 000 davon aus der DPG der DDR. Übergangsregelungen werden den noch vorhandenen Strukturen bei der Bundespost in den fünf neuen Bundesländern gerecht. Wahlen der Bezirksvorstände finden im 2. Vierteljahr 1991 statt. Bis dahin werden die Aufgaben der Bezirksvorstände von Bezirksgeschäftsführern wahrgenommen, die der Hauptvorstand beruft. Für die Wahlen übernimmt der DPG-Kongress die Vorschläge des Kongresses der DDR-Postgewerkschaft. Der Vorsitzende der DPG (DDR), Peter Praikow, wird in den Geschäftsführenden Hauptvorstand gewählt.
Eröffnungsreden von Kurt van Haaren, Vorsitzender der DPG, Peter Praikow, Vorsitzender der DPG (DDR), und Bernd Lindenau, Vorsitzender des DPG-Bezirks Berlin, in: Deutsche Postgewerkschaft, Außerordentlicher Kongreß, Berlin 29./30. Oktober 1990, Protokoll und Anlagen, S. 5ff.
In Bonn beschließt der außerordentliche Gewerkschaftstag der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) die notwendigen Satzungsänderungen zur Bildung der einheitlichen HBV für ganz Deutschland mit Wirkung zum 1. November 1990. Mit den 260 000 Mitgliedern aus der HBV in der DDR hat die HBV nun insgesamt über 670 000 Mitglieder - fast 70 Prozent davon sind Frauen. Die fünf neuen Landesbezirke hatten sich bereits in den beiden letzten Monaten konstituiert; auf Landesbezirkstagen hatten die Delegierten ihre Vorstände und die Landesgeschäftsführer sowie ihre Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretäre gewählt. In Thüringen, Mecklenburg/Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg wurden 18 zusätzliche Geschäftsstellen eingerichtet. Die Beschäftigten sind fast alle ehemalige DDR-Bürger, mehr als 68 Prozent sind Frauen.