Der Wandel in der DDR ist atemberaubend schnell und grundlegend. Bevor noch die Menschen demokratisch entscheiden können, wie sie in Zukunft leben und arbeiten wollen, werden wichtige Entscheidungen in der BRD getroffen. Westdeutsche Banken und Firmen verdrängen Volkseigene Betriebe. Zum Stolz über die Aufbauleistung kommt die Angst um das Erreichte. Nur die enge Zusammenarbeit von Gewerkschaften in Ost- und Westdeutschland kann das Schlimmste verhindern.
3. bis 5. Januar 1990
Die beiden stellvertretenden Vorsitzenden der IG Medien, Heinz Müller und Detlef Hensche, kommen zu einem Erfahrungsaustausch mit Funktionären der IG Druck und Papier im FDGB nach Ost-Berlin. Wesentliches Ergebnis ihrer Gespräche: Die beiden Gewerkschaften werden einen Gegenseitigkeits- und einen Kooperationsvertrag abschließen. Eine Mediengewerkschaft der DDR erscheint sinnvoll.
8. Januar 1990
Mehr als 100 000 Menschen treten auf der Montagsdemonstration in Karl-Marx-Stadt (bis 10. Mai 1953 und ab 23. April 1990 Chemnitz) für "Gewerkschaften und Streikrecht" ein. Einer der Hauptredner ist Ulrich Galle, Vorsitzender des Bezirks Rheinland-Pfalz der ÖTV: "Vor allem müsst ihr das Streikrecht und die Tarifautonomie stärken!"
9. Januar 1990
Der DGB-Vorsitzende Ernst Breit kündigt ein breit gefächertes Kooperationsabkommen mit dem FDGB an. Der DGB wolle verhindern, dass die DDR das neue Billiglohnland Europas werde. Der DGB stehe aber als Gesprächspartner für jene zur Verfügung, die in der DDR einen gewerkschaftlichen Neuanfang außerhalb des FDGB versuchten.
12. Januar 1990
Der Hauptvorstand der ÖTV beschließt die Einrichtung einer Informationsstelle in Berlin, um "Kontakte zum gewerkschaftlichen und betrieblichen Sektor in der DDR" zu halten und Aktivitäten zu Gewerkschaften der DDR zu koordinieren.
20. Januar 1990
Zur Berliner Demonstration gegen Gefährdungen des Rechts auf Arbeit, der sozialen Sicherheit sowie gewerkschaftlicher Rechte und für die Erneuerung der Gewerkschaften von der Basis aus kommen enttäuschend wenige. "Viele Leiter sind schon mehr Unternehmer als wir Gewerkschafter," kommentieren die Initiatoren.
20./21. Januar 1990
In den Räumen der Hochschule der Volkspolizei in Berlin-Biesdorf gründen 600 Delegierte aus den Bereichen, die dem Ministerium für Innere Angelegenheiten (MfIA) unterstellt sind, die "Gewerkschaft der Volkspolizei" (GdVP). Unter den Delegierten sind dreißig Feuerwehrleute.
Die Delegierten beschließen, dass zur Interessenwahrung der verschiedenen Berufsgruppen innerhalb der GdVP "Berufsvertretungen" aufgebaut werden sollen. Als die Feuerwehrleute diesen Beschluss unverzüglich umsetzen und eine "Berufsvertretung Feuerwehr" (BVF) bilden, wirft ihnen die neugewählte GdVP-Führung vor, die GdVP spalten zu wollen.
22. Januar 1990
Die Konferenz der Gewerkschaft Kunst in Ost-Berlin beschließt eine außerordentliche Delegiertenkonferenz für den 19. März, die eine neue Satzung und neue Strukturen für die Gewerkschaft verabschieden soll. Ziel ist eine Mediengewerkschaft mit der IG Druck und Papier und dem "Verband der Journalisten der DDR" (VDJ) nach dem Vorbild der IG Medien in der BRD. Neue Vorsitzende wird Walfriede Schmitt.
25./26. Januar 1990
400 Journalistinnen und Journalisten, Delegierte von 9 100 Mitgliedern des "Verbands der Journalisten der DDR" (VDJ), beraten in Ost-Berlin über die Zukunft ihres Verbandes. Der alte Zentralvorstand war mit dem Bekenntnis zur Mitschuld an der Desinformationspolitik zurückgetreten, die Mitglieder sehen sich als Täter und Opfer zugleich. Nach langer intensiver Debatte wählen sie den Weg des Neubeginns; dafür steht auch der neue Vorstand unter dem Vorsitzenden Gerd Kurze.
27./28. Januar 1990
Rund 420 Delegierte kommen zur außerordentlichen Zentraldelegiertenkonferenz der Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuss (HNG) in die Gewerkschaftschule in Bernau. Sie fordern mehr politische Eigenständigkeit gegenüber dem FDGB und eine eigene Finanzhoheit. Neuer Vorsitzender wird Dieter Behn, Sekretär beim Zentralvorstand der HNG. Er steht vor der schwierigen Aufgabe, in harten Tarifauseinandersetzungen nicht nur mit dem Minister, sondern künftig auch mit Privatunternehmern Arbeitsplätze und -bedingungen zu erhalten und zu verbessern.
31. Januar bis 1. Februar 1990
2 516 Delegierte beschließen auf dem außerordentlichen FDGB-Kongress im Palast der Republik in Ost-Berlin eine neue Satzung und legen damit die Eigenständigkeit der Einzelgewerkschaften fest. Sie streichen das Bekenntnis zur Führungsrolle der SED aus der Satzung und betonen die parteipolitische Unabhängigkeit der Organisation. Der FDGB wird in den Gewerkschaftlichen Dachverband (FDGB) von Industriegewerkschaften und Gewerkschaften mit finanzieller Unabhängigkeit umgewandelt, die bisherige Doppelmitgliedschaft in FDGB und Einzelgewerkschaft wird aufgehoben. Der alte Apparat wird radikal abgebaut; davon sind 80 Prozent der 7 000 Mitarbeiter betroffen.
Wichtigste Forderung des Kongresses ist ein Gewerkschaftsgesetz, das Aussperrungsverbot, Streikrecht und den Schutz der Gewerkschaftsfunktionäre beinhaltet.
Helga Mausch von der IG Bergbau-Energie in Cottbus wird neue Vorsitzende - die erste Nicht-Kommunistin an der Spitze des FDGB. Ihre Arbeit wird nicht leicht: Das Misstrauen gegen die alten Machtstrukturen ist groß. Bereits zehn Prozent der Mitglieder sind in den letzten Wochen ausgetreten. Viele gründen Arbeiterräte in den Betrieben und Kombinaten und werden selbst aktiv - an einer gewerkschaftlichen Vertretung vorbei.