Was ver.di mit Paula Thiede vereint

06.05.2022

Berlin, 06.05.2022 | Auf den Straßen Berlins herrscht der Ausnahmezustand. Es ist der 8. März 1919 und einige Menschen versuchen, an Generalstreik, Verkehrshindernissen und Barrikadenkämpfen vorbei zum städtischen Zentralfriedhof nach Buch zu gelangen. Am frühen Morgen ist es noch völlig ungewiss, ob der einzige laut Plan fahrende Zug nach Buch auch fahren wird. Schließlich fährt er und bringt ein gutes Dutzend Menschen zum Friedhof. Sie wollen der Frau das letzte Geleit geben, die in den vergangenen zwanzig Jahren ihre Gewerkschaft angeführt hat: Paula Thiede, die nur wenige Tage zuvor verstorbene Vorsitzende des „Verbandes der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -arbeiterinnen Deutschlands“.

 

„Wir bekamen Mut, wenn wir sie sprechen hörten, wenn wir sahen, was auch eine Frau vermag im großen Kampf.“

Auguste Bosse über Paula Thiede, 1919

Schon einige Jahre inzwischen ist nach Paula Thiede die ruhige kleine Straße an der Spree benannt, an der die ver.di-Bundesverwaltung in Berlin ihren Sitz hat. Ab heute erinnert dort eine Gedenktafel an die Gewerkschafterin. Und an eine zweite gewerkschaftlich aktive Frau erinnert die Tafel: Bona Peiser, erste Bibliothekarin in Deutschland. Nach ihr ist seit Jahren der Weg benannt, der von der Spree weg an der Längsseite der ver.di-Bundesverwaltung verläuft. Noch immer werden von hier aus Auseinandersetzungen in der Arbeitswelt geführt, sehr viele auch für Frauen. Wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen. Die Berufstätigkeit der Frau wird heute nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wie noch zu Paula Thiedes und Bona Peisers Zeiten. Und auch eine Gewerkschafterin ist heute keine Unmöglichkeit mehr, ganz im Gegenteil. Dass das so ist, ist vor allem ein Verdienst Paula Thiedes, die so etwas wie der weibliche Kern der heutigen Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ist.

 
Paula-Thiede-Gedenktafel vor der ver.di-Bundesverwaltung in Berlin


Zehn gut angelegte Pfennige

Als Paula Thiede am 6. Januar 1870 in Berlin geboren wird, ist die Welt eine andere. Ihre Mutter ist noch Hausfrau, ihr Vater ein einfacher Arbeiter. Sie wächst in armseligen Verhältnissen auf und muss schon sehr früh als sogenannte Anlegerin in einer Druckerei eine Hilfstätigkeit ausüben, um für ihren Lebensunterhalt und später auch für den ihrer Mutter und Geschwister aufzukommen. Es ist für sie keine Frage, 1889 den „Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruckpressen“ mitzugründen. Zehn Pfennige sind der anfängliche wöchentliche Mitgliedsbeitrag. Für Paula Thiede sind diese Pfennige gut angelegt. Erst 1898 wird der Verein in der Gewerkschaft aufgehen, der Paula Thiede bis zu ihrem Tod vorsitzen wird. Thiede und die anderen Frauen bleiben zunächst unter sich und schaffen erst einmal Grundlagen für gewerkschaftliche Frauenarbeit.

Nicht um jeden Preis

1890 heiratet Paula Thiede zwar zunächst und hört auf zu arbeiten. Doch schon zwei Jahre später legt sie wieder Papier an einer Druckmaschine ein, ist mit 22 Jahren Witwe, hat ein kleines Kind, das zweite stirbt schon kurz nach der Geburt. Zu diesem Zeitpunkt heißt sie noch Paula Fehlberg und taucht am 4. März 1892 unter diesem Namen als neugewähltes Vorstandsmitglied in der Organisation der Hilfsarbeiterinnen auf. Von nun an verschreibt sie sich ganz der gewerkschaftlichen Sache. Nächtelang und jahrelang schreibt sie in der kleinen Wohnung, in der sie mit ihrem Kind, der Mutter und der jüngeren Schwester lebt, Versammlungseinladungen und Anschreiben an die Kolleginnen, die sie dann tags darauf nach der Arbeit persönlich verteilt. Alles unentgeltlich. Sie will, dass auch die Hilfsarbeiterinnen einen Lohn zum Leben bekommen.

Aber nicht um jeden Preis. 1898 wird sie mit 28 Jahren einstimmig zur Vorsitzenden des neuen „Verbandes der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -arbeiterinnen Deutschlands“ gewählt. Sie hat inzwischen wieder geheiratet und trägt jetzt den Namen Thiede. Ein Jahr später, auf dem ersten Verbandstag, will sie ihr Amt schmeißen. Die Delegierten lehnen 300 Mark Jahresbesoldung angesichts der Einnahmen der Gewerkschaft als entschieden zu hoch für die Vorsitzende ab. Paula Thiede sagt daraufhin: „Hätte ich die Zeit, die ich dem Verband gewidmet habe, im Dienste eines Unternehmens zugebracht, hätte ich ein Mehr dessen verdient, was jetzt beantragt wird.“ Sie verzichte auf ihre Wiederwahl, wenn dem Antrag nicht stattgegeben werde. Sie nimmt die Wahl schließlich bei einem Jahresgehalt von 200 Mark an – allerdings mit der Option auf ein höheres Gehalt, sollten die Einnahmen steigen.

 

Paula Thiede macht Mut


Die erste Austrittswelle

Ausgerechnet in ihrer Berliner Zahlstelle droht die noch junge Organisation wieder zu zerfallen. Die Berliner*innen waren strikt gegen eine Erhöhung der Besoldung. Es kommt unter den landesweit bis dato nur knapp 1.500 Mitgliedern zu einer Austrittswelle. Paula Thiede reist in zehn Städte und kann viele dazu bewegen, den Austritt aus der Zentralorganisation rückgängig zu machen. Am 28. Oktober 1900 gibt sie dennoch das Amt der Vorsitzenden auf. Warum, bleibt unklar. Ende Januar 1902 übernimmt sie den Vorsitz wieder, ebenso die Redaktion der Solidarität, der Verbandszeitung. Die Entschädigung für ihre bis dahin immer noch ehrenamtliche Betätigung beträgt nun immerhin 600 Mark im Jahr. Im Protokoll des Verbandstages ist dazu zu lesen: „Frau Thiede bemerkte, dass ihr einziger Fehler nur darin besteht, dass sie eine Frau ist, denn Fehler in der Geschäftsführung sind ihr nicht nachzuweisen.“

In den kommenden 17 Jahren zeigt Paula Thiede, was sie als Frau zu leisten vermag. Beginnend mit dem anfangs kostlosen Rechtsschutz und einer kleinen Arbeitslosenunterstützung, setzt sie später mit ihrem Verband auch Lohnerhöhungen, teils von einer Mark pro Stunde, durch, erstreitet verbindliche Tarifverträge und forciert die Einrichtung von Ledigenheimen für Frauen. Ende 1906 kommt ihr Verband in Leipzig zu den ersten Tarifverhandlungen zusammen. Auf dem Abschlussfoto von der Verhandlungskommission steht die kleine, aber kräftige Paula Thiede hinten in der Mitte, gerahmt von 16 Männern und drei Frauen. Sie blickt mit großen Augen nach rechts aus dem Bild, als plane sie schon weitere Schritte.

Wo sind die Arbeiterinnen?

Bis 1919 wird sich die Mitgliedschaft ihrer Organisation verzehnfacht haben. Paula Thiede hat dabei vor allem auch die Frauen im Blick gehabt. 1913 schreibt sie in der Verbandszeitung: „Nach der Berufszählung von 1907 kamen für unsere Organisation 30.976 Hilfsarbeiterinnen in Betracht, aber nach dem Geschäftsbericht von 1912 sind erst 8.535 Arbeiterinnen bei uns organisiert.“ Eine Leserbriefschreiberin aus Dresden antwortet ihr: „Aber wie kann man von uns Frauen selbstlose Aufopferung verlangen, wenn wir sehen müssen, wie unwürdig wir – um es gerade heraus zu sagen – von unseren männlichen Arbeitskollegen behandelt werden. Für die meisten und leider oft intelligentesten sind wir hier bloß ,Weiber'. Wie soll aber die Solidarität und Disziplin in unseren Herzen Raum fassen, wie sollen wir uns für den Emanzipationskampf der Arbeiterklasse begeistern können...?“ Der nahende erste Weltkrieg schiebt die Frauenfrage weiter auf. Paula Thiede schafft es zwar, den Verband sicher durch die Kriegsjahre zu führen und wachsen zu lassen, die Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern existiert aber noch immer.

Als Paula Thiede am 3. März 1919 stirbt, waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bereits ermordet worden. Luxemburgs Leiche sollte erst im Mai im Landwehrkanal gefunden werden. Das Proletariat hatte seine Revolution verloren, die Verhandlungen über Arbeits- und Lohnverhältnisse lagen weiter bei den Gewerkschaften, nicht bei den Arbeiterräten. Die Gewerkschafterin Paula Thiede hatte ein starkes Fundament gelegt. Es hält bis heute.

Text Petra Welzel

Mehr Informationen zu Paula Thiede und Bona Peiser:

paulathiede.verdi.de

bonapeiser.verdi.de