150 Jahre Flächentarifvertrag: Meilenstein der Tarifgeschichte

Wie der Verband der Buchdrucker, der älteste Vorgänger der Gewerkschaft ver.di, 1873 den ersten Reichstarifvertrag erkämpfte

© ver.di Archiv
1905, am 12. Juni, wurde Richard Härtel, dem Vorsitzenden des Buchdruckerverbands, für seine Verdienste um den ersten Flächentarifvertrag der Gewerkschaftsgeschichte in Leipzig ein Denkmal gesetzt
09.05.2023

INHALT

Sie haben in einer Zeit wirtschaftlicher Umbrüche etwas Neues gewagt und gewonnen: Vor 150 Jahren schlossen Buchdrucker, die kurz zuvor die erste deutsche Gewerkschaft gegründet hatten, und der Arbeitgeberverband „Deutscher Buchdruckverein“ den ersten Flächentarifvertrag in Deutschland. Am 9. Mai 1873 trat er in Kraft und beendete intensive Auseinandersetzungen mit Entlassungen, Streiks, Inhaftierungen und Aussperrungen. Welche Bedeutung Tarifverträge seitdem für die Verbesserung von Arbeitsbedingungen und für belastbare Arbeitsbeziehungen haben und wie die Tarifautonomie für die Zukunft gestärkt werden kann, beleuchten wir auf einem Festakt in Berlin, den die Hans-Böckler-Stiftung und die ver.di veranstalten. Die Festrede hält Bundesarbeitsminister Hubertus Heil. Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke übernimmt die historische Einordnung. Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), diskutiert mit ver.di-Vize Andrea Kocsis, Praktiker*innen der Mitbestimmung und Dr. Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung. 

 

Livestream 150 Jahre Flächentarifvertrag

Die Veranstaltung kann hier am 9. Mai 2023 ab 18 Uhr im Livestream verfolgt werden.

 


Tarifverträge prägen zu großen Teilen die Arbeitsbeziehungen in Deutschland. Auf der einen Seite sind da die Gewerkschaften, die stets die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen aller Beschäftigten anstreben. Auf der anderen Seite stehen die Arbeitgeber und ihre Vereinigungen, die die Kosten möglichst niedrig halten wollen, damit die Gewinne umso höher ausfallen. Doch das ist nicht von Anfang an so gewesen. Erst vor 150 Jahren, im Jahr 1873, gelang es dem Buchdruckerverband erstmals, als Tarifpartner anerkannt zu werden und einen reichsweiten Tarifvertrag zu erkämpfen.

„…brechen kann Euch kein Sturm“

Die Revolution von 1848 ist noch jung, da fordern die „Abgeordneten der ersten deutschen Buchdruckerversammlung“ in Mainz von den Herren Buchdruckereibesitzern: „Vereinigen auch Sie sich mit Ihren Collegen, wie unsere sämtlichen Collegen in Deutschland sich geeinigt haben. Gründen auch Sie einen Nationalverein“. Die Buchdrucker hatten Statuten für eine Deutsche National-Buchdrucker-Vereinigung verabschiedet ebenso wie Forderungen nach einem nationalen Tarif, einem Reichstarif. Doch zu einem Tarifvertrag gehören immer zwei, und damals gibt es noch keinen Verband der Buchdruckereibesitzer. Die Buchdrucker wollen aber auch nicht bis zu dessen Gründung warten, wenden sich deshalb mit einer „Petition an die deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt a.M.“ mit der Bitte um „gesetzliche Genehmigung“ der tariflichen Vorschläge als „Reichstarif“. In der Vereinigung sind alle zuversichtlich, in ihrem Beruf gibt es bisher nur Männer, und denen sollen keine Zweifel kommen: „…brechen kann Euch kein Sturm“. Doch mit dem Scheitern der Revolution scheitern auch die Buchdrucker vorläufig mit ihrem Reichstarif. 25 Jahre später versuchen sie es erneut.

„Die Tarifangelegenheit gemeinschaftlich zu berathen“

Seit 1871 gibt es das Deutsche Reich, mit Wilhelm I. einen Kaiser, mit Bismarck einen Kanzler, die Beschäftigten dürfen sich zur Vertretung ihrer Interessen zusammenschließen, es gilt das Koalitionsrecht. Die Buchdrucker, genaugenommen die Buchdrucker- und Schriftsetzer-Gehilfen sowie die Maschinenmeister haben sich bereits 1866 im Deutschen Buchdruckerverband als Gewerkschaft zusammengeschlossen, die Arbeitgeber 1869 im Deutschen Buchdruckerverein. Beide haben ihren Sitz in Leipzig. Vorsitzender des Verbandes ist seit 1867 Richard Härtel, den Vorsitz im Arbeitgeberverein hat ab 1872 Dr. Eduard Brockhaus inne.

Nach der Reichsgründung boomt die Wirtschaft, die Preise steigen. Deshalb gehen vom Buchdruckerverband in vielen Druckereistätten lokale Lohnbewegungen aus, auf die die Buchdruckereibesitzer im Sommer 1872 mit dem Vorschlag reagieren, „durch Delegirte der Gehilfen und der Principale [Arbeitgeber] die Tarifangelegenheit gemeinschaftlich zu berathen“. Die Ergebnisse der Beratungen sollen abschließend dem Arbeitgeberverein zur Zustimmung vorgelegt werden. Die Idee dahinter: Mit einem so festgelegten Reichstarif sollen örtliche Bewegungen ausgeschlossen und mit dem Delegiertenprinzip der Verband der Buchdrucker als Tarifpartner übergangen werden. Dieser Vorstoß läuft ins Leere.

Der Buchdruckerverband wechselt die Taktik. Nicht mehr lokale Tarife sollen durchgesetzt werden, sondern wie schon 1848 ein nationaler Tarif – allerdings nach seinen Vorstellungen. Der Verband lädt vom 13. bis 17. Januar 1873 zu einer Delegierten-Tarifkonferenz nach Leipzig. 15 Kollegen aus 12 Städten kommen angereist, 24 Druckorte haben Forderungen gesandt. Ergebnis der Beratungen sind Vorschläge nach Erhöhung des Akkordlohnes für Setzer, nach einem Minimum „im gewissen Gelde“ (Wochenlohn), nach einem Zehnstundentag, inklusive je einer Viertelstunde Frühstück und Vesper und einiges mehr.

„Thatkräftig für die gerechte Sache einstehen“

Am 22. Januar wird der Tarifvorschlag den Prinzipalen vorgelegt, doch die lehnen ihn zunächst ab. Es geht ihnen nicht um die Höhe der Forderungen, sondern darum, den Verband nicht als Tarifpartner anerkennen zu wollen. In Leipzig reichen daraufhin am 25. Januar 355 Setzer und 55 Maschinenmeister die Kündigung ein, entziehen sich so der Arbeit und streiken. Als Antwort sperren die Arbeitgeber vor Ort rund 200 Gesellen wegen ihrer Verbandszugehörigkeit aus.

Trotz der Aussperrungen, die Streikenden geben nicht auf, woraufhin die Arbeitgeber am 8. März mit einer „allgemeinen Aussperrung“ reagieren: In 66 weiteren Druckorten – von Augsburg bis Zwickau – wird 1.800 Beschäftigten wegen ihrer Mitgliedschaft im Verband gekündigt.

 

„Wir erwarten, dass kein ehrenhafter Kollege in Leipzig Kondition (Arbeit) annimmt.“

Richard Härtel, Vorsitzender des Buchdruckerverbandes, 1873 im „Correspondent“, der Mitgliederzeitung des Buchdruckerverbandes

 
In der Setzerei des Brockhaus-Verlags Ende des 19. Jahrhunderts
© Holzschnitt: akg-images

Gerstensaft, zündende Reden und ein Briefwechsel

Es ist der 18. März 1873, hunderte Buchdruckergehilfen in Breslau sind seit zehn Tagen im Ausstand. Was sie vor dem Abschluss des ersten landesweiten Tarifvertrags erleben und mehr haben wir in der ver.di publik, unserer Mitgliederzeitung, zusammengetragen.

Hier geht's zum Bericht

Im Verlauf des Arbeitskampfes muss der Vorsitzende des Verbandes, Richard Härtel, Anfang April eine sechswöchige Haftstrafe antreten. Er hatte als verantwortlicher Redakteur im „Correspondent“ geschrieben: „Wir erwarten, dass kein ehrenhafter Kollege in Leipzig Kondition (Arbeit) annimmt.“ So ein Streikaufruf ist seinerzeit noch strafbar. Doch die Aussperrungsfront beginnt auch so allmählich zu bröckeln. Schon bei einer außerordentlichen Generalversammlung in Weimar am 24. März senden die Prinzipale erste Signale einer Annäherung. Nach einigem Hin und Her, vor allem nach einem konstruktiven Schriftwechsel zwischen Härtel und Brockhaus, einigt man sich auf die Einberufung einer paritätisch zusammengesetzten Tarifkommission von je 10 Vertretern mit wechselndem Vorsitz.

„Die erstmalige Tarifgemeinschaft“

Die ersten Tarifverhandlungen für einen ganzen Berufsbereich auf nationaler Ebene beginnen schließlich am 1. Mai 1873. Richard Härtel ist noch in Haft, der Verband stellt dennoch klar, dass er „mit allen Kräften an der Erreichung eines möglichst gedeihlichen Zustandes mitwirken“ wolle. Anfangs herrscht Misstrauen, immer wieder kommt es zu gesonderten Beratungen. Schließlich gelingt am 5. Mai einstimmig ein Kompromiss. Am 9. Mai gibt das Verbandspräsidium dann bekannt, dass „der „Delegiertentarif“ sofort in Kraft trete. Die Buchdrucker Leipzigs erklären: „Auf die erzielten Resultate dürfen wir mit Befriedigung blicken.“

Wesentliche Verbesserungen für die Buchdrucker sind erreicht worden: Die Erhöhung des Stücklohnes nach Alphabet-Berechnung, ein Mindestlohn von 19,5 Reichsmark pro Woche, der Zehnstundentag, inkl. Pausen, Überstundenbezahlung (bis zu 100 Prozent an Sonntagen). Im Nachgang wird zudem im Januar 1874 noch die Einrichtung eines Einigungsamtes und von Reichsschiedsämtern zur Klärung von Tarifstreitigkeiten vereinbart.

Ein großartiges Ergebnis, ausgehandelt von der ersten Tarifgemeinschaft in unserer Geschichte. Doch die wirtschaftliche Lage ändert sich rasch und dramatisch. In Folge gehen in den Druckereien die Aufträge zurück. Viele Arbeitgeber verweigern den Tarif oder können ihn nicht umsetzen. Ernüchterung macht sich bei den Befürwortern der Tarifgemeinschaft breit. Ende 1873 war der Tarif erst in 96 von 342 Druckorten umgesetzt.

 
Erst mit der Revolution 1918 wurden die Gewerkschaften als Tarifpartner der Beschäftigten in allen Branchen anerkannt
© Foto: akg-images
Erst mit der Revolution 1918 wurden die Gewerkschaften als Tarifpartner der Beschäftigten in allen Branchen anerkannt

Doch der Anfang der Flächentarifverträge, Tarifverträge, die für eine Branche landesweit gelten, ist mit den Buchdruckern gemacht. Auch ver.di schließt immer wieder solche weitreichenden Tarifverträge, muss aber auch immer wieder sie kämpfen. Daran hat sich nichts geändert, sagt der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke: „Nicht der Kollege oder die Kollegin, mit dem oder der ich in Konkurrenz um billige Arbeit stehe, ist der Gegner, sondern der Arbeitgeber. Ich muss mich mit anderen zusammen schließen und gemeinsam und solidarisch bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Das war der Beginn der gewerkschaftlichen Erfolgsgeschichte. Die hat mit dem ersten – hart umkämpften Flächentarif – eine starke Wegmarke gesetzt, an der wir uns noch heute orientieren. Zusammen geht mehr, das ist auch das Motto der diesjährigen Tarifauseinandersetzung für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. Es zeigt, dass wir unserer Tradition verbunden sind, aber was Strategien und Methoden angeht, mit der Zeit gehen. Da ist es gut, sich immer wieder auch seiner Wurzeln zu vergewissern.“

Text: Hartmut Simon