„Meine Gefühle sind echt“

Matti Gantenberg berührt die Delegierten mit seinem Redebeitrag zum Antrag A153 „It's ok not to be ok – psychische Gesundheit in Gewerkschaftsarbeit fördern!“
21.09.2023

 

ver.di Bundeskongress, Mittwoch, 20.September 2023

Matti Gantenberg geht zum Redepult, hinter ihm reihen sich junge Kolleginnen und Kollegen auf, zeigen ihre Solidarität, in dem sie Fahnen hochhalten und ein Plakat tragen mit dem Slogan: It’s Okay Not To Be okay. (Beifall)

Hi, ich bin Matti und ich hab Depressionen. Ich bin Matti, ich hab‘ Depressionen und das ist okay. Es ist okay, weil meine Gefühle echt sind. Es ist okay, weil meine Krankheit zwar ein Teil von mir ist, aber nicht bestimmt wer ich bin. Und es ist vor allem okay, weil es verdammt nochmal okay ist, wenn‘s mir nicht okay geht.

Was nicht okay ist, ist wie wir als Gesellschaft mit dem Thema psychische Gesundheit umgehen. Fast die Hälfte der in Deutschland lebenden Erwachsenen leidet in ihrem Leben einmal an einer psychischen Erkrankung. Und trotzdem vermitteln wir den Betroffenen, sie seien allein damit. Jeder fünfte Beschäftigte hat schon einmal die Diagnose Depression erhalten und nochmal genauso viele denken, sie seien betroffen, trauen sich aber nicht einen Arzt aufzusuchen. Belastungen am Arbeitsplatz sind mit Abstand der häufigste Auslöser für depressive Erkrankungen. Gerade da müssen wir als Gewerkschaft doch anpacken.

Auch bei mir war der Auslöser damals eine massive Überbelastung auf der Arbeit. Als man sich dann nach zwei Jahren dazu entschied, meinen Vertrag nicht zu verlängern, hieß es von meinem Vorgesetzten nur: „Ich glaube das war damals deine Feuerprobe und du bist daran verbrannt. Wir brauchen aber jemanden der Leistung bringen kann.” Für ihn war das Thema damit erledigt und man fuhr einfach fort, als sei nichts gewesen. Doch ich blieb zurück.

Ich blieb zurück mit diesem dunklen Loch in mir drin, das mich an manchen Tagen wie das schwerste Gewicht der Welt in mein Bett presst, bis ich das Gefühl habe, vor lauter Druck auf meiner Brust zu ersticken. Ich blieb zurück mit tausend kleinen Messern, die als Waffen dienen, während meine Zweifel mich von innen aushöhlen, bis nichts weiter übrigbleibt als eine leere Hülle, die beim kleinsten Zeichen von Widerstand in tausend Teile zu zerbersten droht. Und ich blieb zurück mit einer Mutter, die sich seit über fünf Jahren Vorwürfe macht und sich fragt, was sie falsch gemacht hat und was sie hätte anders machen können.

Mama, es ist nicht deine Schuld. Danke, für alles, was du für mich tust.

(Beifall)

 
„Ich bin nicht allein.“ Bei der Rede von Matti Gantenberg zum Antrag A 153 „It’s ok not to be ok“ stehen Delegierte der ver.di Jugend buchstäblich hinter ihm

Therapie? Einen Therapieplatz hatte ich mal. Ich wusste von Anfang an, dass die Therapeutin, die mir irgendwas von Chakren und Mantren erzählte, nicht die Richtige für mich war. Aber ich dachte mir halt, besser als nichts. Anfang 2020 wurde es mir dann nach etwas unter einem Jahr zu viel als meine Therapeutin plötzlich Verschwörungstheorien über Corona erzählte. Ich brach die Therapie ab. Seitdem suche ich nach einem neuen Platz. Und das dauert. Denn ich suche nicht alleine.

Seit der Coronapandemie ist die Zahl der psychisch Erkrankten stark gestiegen. Und weil es vorher schon zu wenig Kassensitze gab, ist die Lage jetzt noch schlimmer. Im Schnitt warten Betroffene mehr als fünf Wochen auf ein Erstgespräch. Nach dem Erstgespräch stehen dann durchschnittlich nochmal knapp fünf Monate Wartezeit auf einen festen Therapieplatz an. In Ballungsräumen ist die Lage nochmal schlimmer. In Nordrhein-Westfalen oder Berlin zum Beispiel, wartet man im Schnitt ein halbes Jahr auf einen festen Therapieplatz. Da ist es auch kein Wunder, dass man sich dann zehnmal überlegt, ob die komische Therapeutin mit den Verschwörungstheorien vielleicht doch gar nicht so schlimm sei.

Aber Matti, warum suchst du dann seit drei Jahren? Gut. Genau genommen suche ich nicht durchgehend seit drei Jahren. Denn Menschen, die Probleme haben ihren Tag selbst zu strukturieren zu zwingen in einem Zeitraum von exakt 25 Minuten irgendwo anzurufen, nur damit sie dann, wenn sie beim 30sten Versuch mal durchkommen, hören, dass man ihnen „Gerade keinen Platz anbieten könne, sie es aber gerne mal woanders versuchen sollen“, ist eine Zumutung. Und es macht Depressionen ehrlich gesagt schlimmer. Gleichzeitig zu arbeiten oder zu studieren macht das Einhalten dieser Zeitfenster übrigens auch nicht gerade einfacher.

Aber ich muss auch sagen: es geht mir mittlerweile etwas besser.

Denn ich habe jetzt ein Netzwerk von Menschen, die mir helfen. Menschen mit denen ich immer reden kann. Menschen, die zwar nicht immer verstehen wie es mir geht, die aber Verständnis dafür zeigen, dass es mir so geht. Menschen die mir im Zweifelsfall auch einfach nur morgens in den Arsch treten damit ich aus dem Bett komme und rechtzeitig im Kongresssaal sitze. Und diese Menschen haben mir vor allem eins gezeigt: Es ist vollkommen egal, dass ich den Kampf gegen meine Dämonen alleine nicht gewinnen kann. Das muss ich gar nicht. Denn ich bin nicht alleine.

(Beifall)

Und eins haben sie mir auch gezeigt: Worte haben so viel Macht. Also lasst uns reden. Lasst uns reden über psychische Gesundheit. Lasst uns reden über Gefühle. Reden über zeitliche Kapazitäten und reden über Belastung. Und lasst uns uns eingestehen, dass auch wir als Gewerkschaft bei weitem nicht perfekt sind und insbesondere Multifunktionär*innen mit Erwartungshaltungen an Präsenz auf allen Ebenen teilweise überlasten und ihnen das Gefühl geben keine Schwäche zeigen zu dürfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen: Lasst uns dieses Eingeständnis und das Bekenntnis die Betroffenen - nein, uns alle - zu unterstützen und zu schützen in unsere Beschlusslage.

Denn nur wenn wir den Anfang machen und offen darüber reden, können wir dieses Stigma um unsere Psyche brechen.

Hi, ich bin Matti und wenn du reden willst, dann bin ich für dich da.

(Anhaltender Beifall und minutenlange stehende Ovationen)

 

Anmerkung der Redaktion: Es kamen viele positive Rückmeldungen auf die Veröffentlichung von Mattis Rede, einige haben darauf hingewiesen, dass man sich mit psychischen Problemen/Belastungen an die Schwerbehindertenvertretung in den Dienststellen und Betrieben wenden kann.