Was können Gewerkschaften ausrichten gegen Krieg und Katastrophen? Darüber diskutierten auf dem ver.di-Bundeskongress vier internationale Gäste: Valeriy Matov, Präsident von Atomprofspilka in der Ukraine, Christy Hoffman, Generalsekretärin von UNI Global Union, Livia Spera, Generalsekretärin der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) und Jan Willem Goudriaan, Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsverbands für den Öffentlichen Dienst (EGÖD). Mirko Herberg von der Friedrich-Ebert-Stiftung moderierte den Talk.
Die Veranstaltung konzentrierte sich auf Gewerkschaftsarbeit in Zeiten von Krieg und Naturkatastrophen und begann mit einem eindrucksvollen Bericht von Valeriy Matov, Präsident von Atomprofspilka in der Ukraine. Er berichtet über die verheerenden Auswirkungen des Krieges auf die Beschäftigten des größten europäischen Atomkraftwerks in Saporischja, das seit Anfang des Krieges unter russischer Besatzung steht. Er appellierte an die Delegierten: „Ohne euch schaffen wir es nicht!” Seine Worte rührten die Teilnehmer*innen tief, und sie würdigten seinen Mut, trotz der widrigen Umstände vor Ort zu sprechen.
Christy Hoffman sprach über die internationale Solidarität und die Rolle der Gewerkschaften in Zeiten von Konflikten. Sie betonte, dass Solidarität über Ländergrenzen hinweg von entscheidender Bedeutung sei, und ermutigte Gewerkschaften auf der ganzen Welt, in der Praxis zusammenzuarbeiten, um gemeinsame Ziele zu erreichen.
Derzeit setze sich UNI Global trotz des anhaltenden Krieges für den Frieden ein und unterstütze Gewerkschaften und Migrant*innen. Es werden Gelder gesammelt, um die ukrainische Pflegegewerkschaft Care Union „Be Like Nina“ zu unterstützen und einen Dienst Namens „Unions Helping Refugees“ ins Leben zu rufen. Insbesondere Frauen sollen während des Kriegs unterstützt werden: „Vor allem viele Frauen flohen über die Grenze, aber dort waren sie allen Arten von Ausbeutung ausgesetzt. Also haben wir ihnen geholfen, sich gegen schlechte Arbeitgeber zu wehren und ihre Rechte zu verstehen, und dieser Dienst hat jetzt acht Mitarbeiter, von denen sechs selbst russisch-ukrainischsprachige Migranten sind.“
Zudem setze sich UNI Global dafür ein, dass beim Wiederaufbau Kollektivverhandlungen und Grundrechte für die Arbeiter berücksichtigt werden – dafür wurde eine Arbeitsgruppe im Rat der Weltgewerkschaften geschaffen: „An dieser Stelle möchte ich sagen, dass wir jetzt vor allem im Council of Global Unions darauf achten, dass, wenn die Zeit des Wiederaufbaus gekommen ist und die Bedürfnisse des Wiederaufbaus schnell erkannt werden, dies mit Tarifverhandlungen und strafrechtlichen Rechten für die betroffenen Arbeitnehmer verbunden sein muss."
Jan Willem Goudriaan wurde vom Moderator gefragt: „Auch wenn Russland in diesem Konflikt ganz klar der Aggressor ist, wollen wir nicht vergessen, dass es dort genau wie in Belarus Gewerkschafter*innen gibt, die sich gegen ihr Regime wenden und dafür verfolgt werden. Einige verfolgte Gewerkschafter*innen haben sich in den letzten Jahren bereits hilfesuchend an euch gewandt. Was können wir aus europäischer Perspektive tun, um die betroffenen Kolleg*innen in Russland und Belarus zu unterstützen?”
Goudriaan betonte, dass bereits politische Schritte unternommen wurden. Dazu gehöre die Beendigung der Beziehungen zu russischen Gewerkschaften, die den Krieg unterstützen. Dies wurde als notwendige Maßnahme angesehen, da die russischen Gewerkschaften die Kontrolle über Gewerkschaften im besetzten Süden der Ukraine übernommen haben, was die Gewerkschaftsfreiheit in dieser Region stark beeinträchtigt. Er weist auch auf die Situation in Belarus hin, wo viele Gewerkschaftsführer und lokale Aktivist*innen inhaftiert sind: „Derzeit sitzen etwa 50 Gewerkschaftsführer, lokale Aktivisten, viele wie Sie, die in Betrieben aktiv sind und an Streiks teilgenommen haben, im Gefängnis.“
Der EGÖD leiste zudem finanzielle Unterstützung, um die Familien der Inhaftierten zu unterstützen und die Arbeit der Gewerkschaften aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus engagieren sie sich auf politischer Ebene, indem sie beispielsweise die Europäische Union, das Europäische Parlament und die Weltgesundheitsorganisation auf die Situation im Gesundheitssektor aufmerksam machen. Neben Personalmangel, Überstunden und niedrigen Löhnen gibt es auch eine systematische Unterdrückung unabhängiger gewerkschaftlicher Aktivitäten im Gesundheitswesen.
Livia Spera von der ETF äußerte sich beim Gespräch schließlich zu der Notlage der Trucker von Gräfenhausen: „Im Moment fehlen in Europa mehrere hunderttausend Fahrer, weltweit sind es Millionen. Und warum? Weil die Menschen nicht mehr in diesem Sektor arbeiten wollen. Die Arbeitsbedingungen haben sich nach der Liberalisierung und nach der Gesetzgebung, die den Binnenmarkt in der Europäischen Union geöffnet hat, so sehr verschlechtert, dass verschiedene Formen von Sozialdumping möglich sind.” Sie weist auch darauf hin, dass viele Drittstaatsangehörige aus Ländern wie Usbekistan, Kasachstan und Georgien über Länder wie Litauen und Polen in die Europäische Union kommen, wo die Gewerkschaften oft nicht in der Lage sind, sie zu organisieren oder ausreichend aktiv zu sein. Deshalb sei der Streik in der Transportbranche umso bemerkenswerter.
„Aktuell, während wir hier sprechen, befindet sich die Polizei vor Ort, um sie zu schützen. Dies ist notwendig“, so Spera weiter, da Arbeitgeber in der Vergangenheit paramilitärische Kräfte gegen sie eingesetzt haben. „Es handelt sich daher um eine grundlegende Angelegenheit der Gewerkschaftsfreiheit, der Gewerkschaftsrechte und der Arbeitsrechte.” Schließlich betont sie die Bedeutung der Umsetzung von Gesetzen wie dem Mobilitätspaket, um den Verkehrssektor zu verbessern und faire Arbeitsbedingungen zu fördern. Die Gelegenheit zur Veränderung besteht, und politische Vertreter und die Europäische Kommission sollten diese nutzen, um den Sektor nachhaltig zu gestalten.
Hilfe trotz widriger Umstände
Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft sind derzeit an etlichen Fronten gleichzeitig gefragt. Das furchtbare Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat viele von uns sehr berührt. Moderator Mirko Herberg wendete sich in diesem Zusammenhang an Christy, die erläuterte, wie trotz politischer Hindernisse Hilfe vor Ort geleistet werden kann:
„In einigen Fällen von Erdbeben, in denen wir starke und aktive Gewerkschaften vor Ort haben, können wir Geld sammeln und konkrete Mittel zur Verfügung stellen. In der Türkei haben wir kürzlich eine Reihe von Gewerkschaften unterstützt, die nicht nur das Überleben ihrer Gewerkschaften sichern konnten, sondern auch einigen ihrer Mitglieder die notwendige Hilfe zukommen lassen konnten. Und auch in Nepal – Sie erinnern sich vielleicht an das Erdbeben vor einigen Jahren, ein sehr armes Land – konnten wir mit einer internationalen Hilfsorganisation namens AFIDA zusammenarbeiten und ihnen so viele Mittel zur Verfügung stellen, dass einige unserer Mitglieder, unsere Gewerkschaften, tatsächlich Häuser wieder aufbauen konnten, vor allem in sehr abgelegenen Gebieten. Das ist also konkret. Aber an anderen Orten, an denen wir keine Gewerkschaften haben, haben wir die Menschen aufgefordert, an den Roten Halbmond oder eine andere internationale Organisation zu spenden. Wir müssen kreativ sein und den Arbeitnehmern und Gewerkschaften zeigen, dass sie nicht allein sind.”
Livia ergänzte ihre Erfahrungen und betonte die Bedeutung von Solidarität und gemeinsamen Anstrengungen, um den Menschen in diesen Krisengebieten zu helfen. Dies umfasse auch Unterstützung für ukrainische Gewerkschaften im Eisenbahn- und Schifffahrtssektor sowie die Bereitstellung von Hilfe für Familien, die vor dem Konflikt flohen.
Sie weist jedoch auch auf ein drängendes Problem der Gewerkschaftsarbeit innerhalb der Ukraine hin: „Es ist für die Gewerkschaften in der Ukraine immer schwieriger zu arbeiten, das hören wir von unseren Mitgliedern. Schon vor dem Krieg war es schwierig, und jetzt haben wir den Eindruck, dass es immer mehr Angriffe auf Gewerkschaftsrechte und Gewerkschaftsaktivitäten gibt. Wenn die Europäische Union ernsthafte Gespräche über den Beitritt der Ukraine, die Gewerkschaftsrechte und die Arbeitnehmerrechte aufnimmt, sollten wir sicherlich im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Wir haben einen Krieg. Wir haben Zweifel, weil wir wissen, dass selbst in der Europäischen Union viele Länder diese Rechte nicht respektiert haben, aber das sollte wirklich Teil des Schlüssels sein, und das ist ein sehr wichtiges Stück Arbeit, das über die praktische Unterstützung hinausgeht, die wir als Gewerkschaftsverband jetzt leisten müssen.”
Ein Blick auf die Situation der Frauenrechte weltweit
In Zeiten von Krieg und Klimakatastrophen leiden Frauen besonders unter den Folgen. Christy betonte im dritten Themenblock die weltweite lebendige feministische Bewegung. Sie beobachtet Frauen überall auf der Welt, die entschlossen für Gleichberechtigung kämpfen und betonte, dass der Wunsch nach Gleichstellung nie verschwinden wird – dabei erinnert sie an den Jahrestag der Ermordung von Jina Mahsa Amini im Iran und wie das Gedenken an sie viele dazu inspirierte, weiterzukämpfen.
Goudriaan wies darauf hin, dass ein bedeutender Teil der EGÖD, etwa 65 bis 70 Prozent, aus Frauen besteht, und drückte seinen Stolz aus, ihre Interessen zu vertreten. Er hob die besorgniserregende Tendenz von Angriffen auf die Frauenrechte in ganz Europa hervor, die mit dem Aufstieg rechtsextremer politischer Bewegungen wie der AfD einhergeht. Diese Angriffe zielen auf traditionelle Frauenrollen, gleiche Rechte und sogar reproduktive Rechte wie das Recht auf Abtreibung ab. Die EGÖD hat sich aktiv in Brüssel engagiert, um das Recht auf Abtreibung zu verteidigen, und forderte dazu auf, diesen Kampf auch auf europäischer Ebene fortzusetzen.
„Ich denke, dass unser Kampf für die Rechte der Frauen, wie Christy sagte, nicht vorbei ist, solange Frauen nicht die gleichen Rechte haben, nicht die gleichen Chancen, die gleichen Möglichkeiten, am Arbeitsplatz, in unseren Organisationen, auch in unseren Gewerkschaften, vertreten zu sein.”
Insgesamt bot das Gespräch wertvolle Einblicke in die Herausforderungen und Chancen der internationalen Gewerkschaftsarbeit. Die Teilnehmer betonten die Notwendigkeit der Solidarität und des gemeinsamen Handelns, um die drängenden globalen Probleme anzugehen. Sie beendeten die Veranstaltung mit einem starken Aufruf zur internationalen Solidarität und einem Versprechen, sich weiterhin für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weltweit einzusetzen.
*Die Transkriptionen des Beitrags des Kollegen aus der Ukraine liegen uns nicht vor und werden noch ergänzt.