„Eine sehr schreckliche Zeit“

Lesia Seminiaka ist seit dem Jahr 2000 Gewerkschafterin in der ukrainischen Gewerkschaft für die Beschäftigten der Atomkraftwerke. Ihre Arbeit hat sich mit dem Krieg verändert
21.09.2023
Lesia Seminiaka, Gewerkschafterin für Internationales bei der Atomprofspilka

ver.di: Lesia, eure Gewerkschaft betreut die Beschäftigten in der Kernenergie. In Saporischschja, bzw. in der Stadt Enerhodar befindet sich das größte europäische Kernkraftwerk. Es ist seit Beginn des Kriegs in russischer Hand. Habt ihr Kontakt zu den verbliebenen ukrainischen Beschäftigten dort?

Lesia Seminiaka: Zu Beginn des Krieges, am 1. März, wurde das KKW Saporischschja besetzt, und von da an begann eine sehr schreckliche Zeit. Wir haben etwa 570 Kriegstage hinter uns, und im Moment kennen wir die genaue Zahl der Arbeiter nicht, die sich noch im Kraftwerk aufhalten, aber wir denken, dass es etwa 1.200 bis 1.500 Arbeiter sind, die dort ihre Arbeit fortsetzen. Vor dem Krieg gab es 11.000 Beschäftigte im Werk selbst und weitere 1.000 Mitarbeiter im Unternehmen. Etwa 9.000 Arbeiter aus den besetzten Gebieten konnten in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet gebracht werden, und wir wissen, dass das Unternehmen Gehälter an alle Nukleararbeiter zahlt, die geflohen sind. Aber diejenigen, die in Saporischschja bleiben mussten, sind in großer Gefahr, ihre Leben sind bedroht. Natürlich halten wir die ganze Zeit den Kontakt über verschiedene Wege, übers Internet, Telefon. Wir wissen, dass alle Handys von den russischen Sicherheitskräften abgehört werden, dass die Arbeiter unter großem Druck stehen.

Gleich zu Beginn des Krieges wurden einige Arbeiter von russischen Soldaten getötet, die sich Befehlen widersetzten. Wisst ihr, wie die Arbeitsbedingungen aktuell sind?

Dazu muss man wissen, dass in den besetzten ukrainischen Gebieten Folterkammern eingerichtet wurden, in denen ukrainische Menschen gefoltert und unter Druck gesetzt werden. Auch im Atomkraftwerk gibt es eine Folterkammer, und eine Reihe unserer Gewerkschafter waren in dieser Kammer. Einer von ihnen, der jetzt in unserem Büro arbeitet, konnte fliehen und lebt nun in Kiew. Durch ihn haben wir von der Folterkammer erfahren, aber wir wissen nicht, wie viele Menschen gefoltert, wie viele Menschen getötet wurden. Diese Folterungen und die Besetzung des Atomkraftwerks sind ein großer Akt des Nuklearterrorismus. So etwas hat es in der Welt noch nie gegeben. Niemand kennt eine solche Situation.

 

„Wir helfen allen unseren Mitgliedern, die vom Krieg betroffen sind. Wir helfen auch den Mitgliedern, die sich der ukrainischen Armee angeschlossen haben. Es sind schon viele von ihnen verletzt worden und eine Reihe von ihnen gestorben. Leider sind auch schon viele Gewerkschafter an der Front gestorben.“

Inzwischen sind Kontrolleure der Internationalen Atomenergiebehörde vor Ort. Was können sie ausrichten?

Die Atomenergiebehörde hat Angst vor Russland und steht aus unserer Sicht unter russischem Einfluss. Sie kontrollieren auch nicht wirklich. Wir wissen von zwei Kontrolleuren, dass sie nicht hingehen dürfen, wohin sie wollen. Sie können nur dort kontrollieren, wo es ihnen die Russen erlauben. Sie haben keine Möglichkeit, das ganze Gelände zu inspizieren. Das heißt, die Folterkammer existiert immer noch. Wir wissen auch, dass die Maschinenräume mit Fahrzeugen vollgestopft sind, auch mit bewaffneten Fahrzeugen mit verschiedenen Waffen.

Was bedeutet das für die nukleare Sicherheit?

Es vergrößert die Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe. Wir kennen nicht alle Details, aber wir wissen bereits, dass es einige technische Probleme gibt, weil nicht genügend ukrainische Spezialisten vor Ort sind. Die russischen Spezialisten können sie nicht lösen, weil unsere Anlagen anders sind als die russischen. Wir kennen die Anzahl der Schäden nicht. Aber die Situation ist gefährlich, weil radioaktives Wasser bereits in die Kühlbecken gelangt. Und das ist sehr gefährlich, weil es der erste Schritt zur nuklearen Katastrophe ist.

Russland greift immer wieder auch die Infrastruktur der Ukraine an. In der Ukraine sind noch vier weitere Kernkraftwerke in Betrieb. Wie ist die Situation dort?

Zu Beginn des Krieges wollte Russland auch das südukrainische Kernkraftwerk besetzen, aber das ist ihnen nicht gelungen. So arbeiten jetzt drei unserer Kraftwerke unter normalen Bedingungen. Dort ist alles in Ordnung. Aber natürlich heulen die Sirenen sehr oft und natürlich auch am Tag. Alle Gebiete der Ukraine sind von Drohnen- und Raketenangriffen bedroht.

Wie hat sich eure Arbeit seit dem Beginn des Krieges verändert?

Die Arbeit hat sich gründlich verändert. Wir helfen allen unseren Mitgliedern, die vom Krieg betroffen sind. Wir helfen auch den Mitgliedern, die sich der ukrainischen Armee angeschlossen haben. Es sind schon viele von ihnen verletzt worden und eine Reihe von ihnen gestorben. Wir unterstützen ihre Angehörigen. Leider sind auch schon viele Gewerkschafter an der Front gestorben.

Männliche Gewerkschafter, die zur Armee gegangen sind?

Ja, sie sind in die Armee eingetreten und verteidigen die territoriale Integrität der Ukraine. In unserer Gewerkschaft vertreten wir auch die Mitarbeiter der Nationalparks. In der Ukraine gibt es 20 Nationalparks. Und als das Wasserkraftwerk Kakhovka in die Luft gesprengt wurde, brauchten uns unsere Mitglieder, die im Lodnipa-Nationalpark arbeiten. Sie haben alle sehr gelitten, weil sie nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Wohnungen und Häuser verloren haben. Wir unterstützen unsere Mitglieder finanziell.

Woher nehmt ihr das Geld für die Betroffenen, wenn so viele nicht mehr für ihre Mitgliedschaft in eurer Gewerkschaft bezahlen können?

Dank der internationalen Solidarität haben wir etwas finanzielle Unterstützung erhalten, und wir sammeln Geld. Wir sind da solidarisch. Zum Beispiel haben unsere Kernkraftwerke von Chmelnizkij, Riwne und Pivdeno sofort den Mitgliedern in Saporischschja geholfen.

Liebe Lesia, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für eure Zukunft.