Neues Selbstbewusstsein

Bevor über neue Anträge beraten wird, zieht ver.di eine Bilanz der vergangenen vier Jahre. Geprägt wurden sie von den Auswirkungen der Coronapandemie und des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine
© Charles Yunck
Aussprache zum Geschäftsbericht beim ver.di-Bundeskongress 2023
17.09.2023

Ein Rückblick auf vier Jahre ver.di steht am Beginn des ver.di-Bundeskongresses. Die Bilanz der Zeit von 2019 bis Ende 2022 liegt den Delegierten in schriftlicher Form vor, der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke, das für Finanzen zuständige Bundesvorstandsmitglied Christoph Meister, die Gewerkschaftsratsvorsitzende Martina Rößmann-Wolf sowie die Vorsitzenden der Gewerkschaftsrats-Ausschüsse für Personal sowie Haushalt- und Finanzen, der Kontroll- und Beschwerdeausschuss und die ehrenamtliche Revisionskommission ergänzten ihn.

Krieg und Frieden

Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke betonte in seinen mündlichen Ergänzungen, die Gewerkschaften seien Teil der Friedensbewegung. Aber auch sie befänden sich in dem Spannungsverhältnis zwischen Waffenlieferungen an die Ukraine und der Drohung Russlands mit einer weiteren Eskalation des Konflikts. Das wird im Laufe des Kongresses noch weiter diskutiert, zum Thema „Krieg und Frieden" liegen mehrere Anträge vor.

Eine der spürbaren Folgen des Krieges hierzulande ist die rasant steigende Inflation. „Die hohe Inflation hat eine harte soziale Schieflage", sagte Werneke in seinem ergänzenden Bericht. Zwar hätte es Preisbremsen für Gas und Strom gegeben, allerdings hätte der Bundesregierung das Gespür für die sozialen Auswirkungen der Inflation gefehlt. So seien Rentner*innen und Studierende bei der Auszahlung des Energiegeldes ausgenommen worden. Erst mit dem Einsatz von Gewerkschaften hätte man es geschafft, das zu heilen.

 

Vier Jahre ver.di – 2019 bis 2023

 

Werneke erinnerte aber auch an die Herausforderungen, vor die die Corona-Pandemie die Gewerkschaften gestellt hat. Doch es sei gelungen, trotz der Einschränkungen die Betreuung der Mitglieder in den Betrieben und Dienststellen und auch im Homeoffiche sicherzustllen – „mit großem persönlichen Einsatz und viel Flexibilität". Das sei auch nötig gewesen, denn ver.di-Mitglieder in vielen Branchen – zB. im Handel, der Pflege, der Ver- und Entsorgung oder im öffentlichen Dienst – hätten den Laden am Laufen gehalten. Doch allen anderslautenden Ankündigungen zum Trotz würde bislang noch versucht, sie mit einem warmen Händedruck abzuspeisen. 

Brüche treten offen zutage

„In der damaligen Zeit ist viel vom ,Brennglas' geredet worden, unter dem die Dinge besonders sichtbar wurden. Und in der Tat: Brüche sind offen zutage getreten, klafften auf – wie Wunden in unserer Gesellschaft. Es ist überdeutlich geworden, dass wesentliche Teile der Daseinsvorsorge seit Jahren auf Verschleiß gefahren werden, dass außerdem ein Riesen-Investitionsstau in Deutschland besteht und dass massive Defizite bei der Digitalisierung vorhanden sind", sagte Werneke rückblickend. Und der Wahnsinn gehe weiter. Im aktuellen Haushaltsentwurf würden die Gelder für wichtige Dinge wie Digitalisierung der öffentlichen Hand zusammengestrichen. 

 

„ver.di steht für eine vielfältige, solidarische Gesellschaft, in der alle gleichberechtigt leben können. Egal woher sie kommen, woran sie glauben, wie sie aussehen, welches Geschlecht sie haben oder wen sie lieben. Antisemitismus ist für uns keine Jugendsünde. Die Menschenrechte gelten für alle und sind nicht verhandelbar"

Frank Werneke, ver.di-Vorsitzende

Die laufenden Beratungen des Bundeshaushalts werde ver.di genau beobachten, denn deren Wirkungen gingen weit über das kommende Jahr hinaus. Dabei würden die politischen und finanziellen Weichen für die kommenden Jahre gestellt, weil nach dem Willen der Mehrheit der Koalitionäre die Schuldenbremse wieder aktiviert und gleichzeitig Unternehmenssteuern gesenkt werden sollen.

Zusammenhalt der Gesellschaft

„Eine fatale Fehlentscheidung", kommentierte der ver.di-Vorsitzende. Sie wirke sich besonders in sensiblen Bereichen wie Kinderarmut, Gesundheit, Pflege und Bildung aus. Sensibel deswegen, weil es in diesen Bereichen um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft geht. An vielen Stellen gehe der Entwurf auch in eine „völlig falsche Richtung". Als Beispiele nannte er die Unterfinanzierung der Pflegeversicherung oder Kürzungen bei der sozialen Wohlfahrtspflege. Letztere wirkten sich auch auf Migrationsberatung und die Förderung erwachsener Zugewanderter aus. 

Neues Selbstbewusstsein

Aber viele Beschäftigte hätten in den vergangenen Jahren ein neues Selbstbewusstsein entwickelt. Das zeige sich auch in den Betrittszahlen zu ver.di. „Wir wachsen gerade bei jungen Mitgliedern. Insgesamt ist das die höchste Eintrittszahl seit der Gründung von ver.di vor nunmehr 22,5 Jahren. Zum Vergleich – im letzten Jahr vor Corona im Jahr 2019, hatten wir im gesamten Jahr 125.000 Eintritte – und das war damals das viertbeste Jahr in unserer Geschichte", sagte Werneke. Wenn die Entwicklung so weiterlaufe, werde ver.di das Jahr 2023 mit einem Plus von mehreren zehntausend Mitgliedern abschließen. 

Dieses Selbstbewusstsein spiegele sich auch in den großen und kleinen Tarifrunden wieder, die ver.di in den zurückliegenden vier Jahren erfolgreich abgeschlossen hat. In der nächsten Zeit werde ver.di sich besonders für die Beschäftigten Post einsetzen, denn durch die angekündigte Novelle des Postgesetzes seien unter Umständen zehntausende Arbeitsplätze in Gefahr.

Klar arbeitnehmerfeindlich

Werneke warnte zudem vor rechter Hetze und zunehmender Gewalt von rechts. Insbesondere die AfD mit ihrem klar arbeitnehmerfeindlichen Programm nannte er. Für ver.di gebe es keinerlei Zusammenarbeit mit der AfD. „ver.di steht für eine vielfältige, solidarische Gesellschaft, in der alle gleichberechtigt leben können. Egal woher sie kommen, woran sie glauben, wie sie aussehen, welches Geschlecht sie haben oder wen sie lieben. Antisemitismus ist für uns keine Jugendsünde. Die Menschenrechte gelten für alle und sind nicht verhandelbar", sagte er. 

Das gelte auch für Geflüchtete, die ein Menschenrecht auf Asyl hätten. Die Verteilungsfrage ist für ver.di eine zwischen Kapital und Arbeit – und nicht eine Frage der Herkunft, wie die Rechten es behaupteten. „Kein Fußbreit den Faschisten, kein Fußbreit den Nazis und ihren Helfern", so Werneke. 

Bunter geworden

„Unsere Gewerkschaft ist in den vergangenen vier Jahren noch ein bisschen bunter geworden und das ist gut so, denn wir sind ver.di: Wir sind Migrationsgewerkschaft, wir sind Regenbogen, wir sind Erwerbslose, wir sind Senior*innen und Jugend, Beamt*innen, Arbeiter*innen und Angestellte und Selbstständige", sagte Werneke. Das spiegele sich auch beim Kongress wieder – und sicherlich auch in seinen Beschlüssen.

In der Aussprache dazu spielten die Erfahrungen in der Corona-Pandemie, zurückliegende Tarifrunden und das Pro und Contra zur Sozialpartnerschaft eine große Rolle. In mehreren Beiträgen ging es um Vertrauensleutearbeit, Mitgliederwerbung und die Basisarbeit in Betrieben und Dienststellen. Ein Kollege erinnerte an die streikenden LKW-Fahrer aus Osteuropa in Graefenhausen. Auch die ver.di-Position zu Krieg und Frieden wurde immer wieder thematisiert. Der entsprechende Antrag soll am Montag morgen diskutiert werden. Insgesamt gab es 47 Wortbeiträge zum Geschäftsbericht.

Der Geschäftsbericht für 2019 bis 2022

Die mündliche Ergänzung zum Geschäftsbericht von Frank Werneke