„Das ist der Sinn von Gewerkschaft“

23.09.2019

Leipzig, 23. September 2019 – Beim letzten ver.di-Bundeskongress vor vier Jahren waren viele Flüchtlinge in den Messehallen in Leipzig untergebracht. Daran erinnerte Katrin Tremel von der Kongressleitung zu Beginn des zweiten Tags des 5. ver.di-Bundeskongresses, der von Rückblick und Rechenschaft geprägt war. Die Aktion der Jugend am Vorabend mit Seerettungswesten und Transparent sowie der Auftritt des syrischen Sängers Aeham Ahmad, der durch sein Klavierspiel im Flüchtlingslager Jarmuk bekannt wurde, sei ein Brückenschlag ins Jahr 2015, sagte sie. Und die Vorsitzende des Gewerkschaftsrats, Monika Brandl, erinnerte: „Wir haben für warme Kleidung gesorgt und für die Kinder Spielzeug besorgt.“

 

„Wir haben Einfluss genommen und wir haben Erfolge erzielt.“

Frank Bsirske, der scheidende ver.di-Vorsitzende

Was seither in ver.di passiert ist, darüber berichtete danach der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske. „Wir haben Einfluss genommen und wir haben Erfolge erzielt“, sagte er. Oft seien Streiks notwendig gewesen. Er erinnerte an den erfolgreichen Arbeitskampf um den Tarifvertrag bei Ryanair. Niedrige Löhne, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Arbeitsverhältnisse wie im 19. Jahrhundert, das wollten die Beschäftigten nicht länger hinnehmen. Jetzt gibt es einen Tarifvertrag mit deutschen Arbeitsverträgen an den deutschen Standorten und mit Löhnen auf Industrieniveau; das heißt monatlich rund 1.000 Euro mehr. Auch die Organisierung prominenter Unterstützer*innen habe geholfen, betonte Bsirske. ver.di könne die Menschen zusammenbringen, die das möglich machen, sagte er. „Gemeinsam können wir mehr erreichen, als jede und jeder für sich allein. Das ist der Sinn von Gewerkschaft.“

Und erfolgreiche Arbeitskämpfe gab es viele, sei es für Auszubildende als angehende medizinisch-technische Assistent*innen, der Kampf in den Kliniken, bei der Post, im Sozial- und Erziehungsdienst, im Gesundheitssektor und im Pflegebereich sowie im öffentlichen Dienst, um nur einige zu nennen. Und auch internationales Vernetzen wurde vorangetrieben, wie bei Amazon. Falsch sei hier der Eindruck der Presse, dieser Kampf sei vergeblich, sagte Bsirkse. Das Unternehmen habe sehr wohl auf die Aktionen aus der Belegschaft reagiert. Regelmäßige Lohnerhöhungen, Zuschläge und Weihnachtsgeld, das gebe es jetzt. Und ver.di werde auch künftig fest an der Seite der Amazon-Beschäftigten stehen.

 
Frank Bsirske legt Rechenschaft ab über die vergangenen vier ver.di-Jahre.

Auf betrieblicher Ebene haben mehrere Fachbereiche den DGB-Index „Gute Arbeit“ genutzt, zum zu ermitteln, wie die Beschäftigten ihre Arbeitssituation beurteilen und was sie sich von Guter Arbeit erwarten. Die Ergebnisse wurden zum Ausgangspunkt betrieblicher Initiativen gemacht. Wie sich gezeigt habe, sei die Nutzung von Gefährdungsbeurteilungen ein wichtiger Hebel, um sich für gute Arbeit einzusetzen, so Bsirske. Unter den gegebenen Bedingungen bedeute die Forderung nach guter Arbeit allerdings oft genug zuallererst, schlechter Arbeit Grenzen zu setzen.

Mitglieder zählen

Gewerkschaften brauchen Mitglieder, ganz klar. „Wir sind eine Mitgliederorganisation“, betonte Bsirske vor den Delegierten. Die Mitgliederentwicklung sei die politischste Aufgabe der Organisation. Die frohe Botschaft lautete: ver.di konnte die Eintrittszahlen kontinuierlich steigern. Doch viele Beschäftigte steigen mit Erreichen der Rente aus. Auch verliert die Gewerkschaft viele Neumitglieder in den ersten fünf Jahren.

Auch der noch stellvertretende und designierte ver.di-Vorsitzende Frank Werneke betonte, trotz positiver Eintrittszahlen seien die Austritte noch zu hoch. Die Gründe lägen im Arbeitsplatzabbau in einzelnen Branchen, in Sterbefällen oder weil Menschen in Rente aussteigen, aber auch in einer veränderten Haltung, die dazu führe, nur solange Mitglied bleiben zu wollen, wie die Gewerkschaft direkt gebraucht werde. Trotz der rückläufigen Gesamtmitgliederzahlen und der streikintensiven letzten vier Jahre, seien die Finanzen gut, legte Werneke offen. ver.di sei nicht nur eine starke politische Kraft, die Gewerkschaft sei auch jederzeit in der Lage, alle Arbeitskämpfe finanziell sicher zu stellen.

Die Neuausrichtung

Um Impulse für die Mitgliederentwicklung zu setzen, ging Bsirske auf die großen Umgestaltungsprozesse ein, die Trennung und Neuausrichtung von kollektiver Betriebs- und Tarifarbeit sowie der individuellen Mitgliederarbeit werde vorangetrieben. Die kollektive Arbeit soll sich stärker an den Interessen der Mitglieder ausrichten. Die Ressourcen sollen für den Ausbau gewerkschaftlicher Strukturen in Betrieben und Dienststellen genutzt werden. Mit den ver.di-Zentren und Teams für Beratung und Recht habe ver.di daran gearbeitet, eine leistungsfähige Betreuungsstruktur für ihre Mitglieder zu schaffen. Die Vorsitzende des Gewerkschaftsrats, Monika Brandl, ergänzte dazu in ihrem Bericht: „Das bedeutet, dass wir uns auf Kernaufgaben konzentrieren und professioneller werden. Die Erreichbarkeit und den Service wollen wir verbessern und noch mehr Power in der Betriebswelt entfalten.“

Vorangebracht hat ver.di seit Mitte 2017 auch die Neuordnung ihrer Fachbereichsstrukturen. So ist in den Fachbereichsvorständen beschlossen worden, künftig die Fachbereiche 1, 2, 8 und 9 sowie die Fachbereiche 4, 6, 7, 11 und 13 und die Fachbereiche 3 und 5 zu jeweils einem Bereich zusammenzufassen. Damit wolle ver.di den Entwicklungen in den Branchen gerecht werden und ihre Handlungsfähigkeit verbessern, sagte Frank Bsirske.

Gegen Fremdenfeindlichkeit

Klare Worte fand der noch amtierende Vorsitzende gegen die AfD. „Ein Zurück in nationale Beschränktheit jedenfalls ist das Letzte, was wir brauchen.“ In Zeiten von Klimawandel, internationalen Finanzkrisen, Terrorismus, Handelskonflikten, Flüchtlingsbewegungen und grenzüberschreitend handelnden Konzernen brauche es stattdessen ein Mehr an Miteinander, ein Mehr an Zusammenarbeit.

Der mündliche Bericht des scheidenden Gewerkschaftsvorsitzenden machte die enorme Breite der Arbeit in ver.di deutlich. „Wir haben trotz harter Rahmenbedingungen beachtliche Erfolge erzielt“, sagte Bsirske. ver.di sei heute die starke Dienstleistungsgewerkschaft in Deutschland. Sie habe sich in harten Arbeitskämpfen bewährt. Gewerkschaft, das sei politische Organisation, um Einfluss zu nehmen auf staatliches Handeln, auf Parteien und Öffentlichkeit.

„Nur zusammen sind wir stark“, wiederholte Frank Bsirske in den einsetzenden Beifall hinein. Der Applaus gelte allen, fügte er hinzu. Und dann wurde er emotional: „Es ist unumstößlich. Kolleginnen und Kollegen, macht es mir nicht so schwer.“ Er klopfte sich aufs Herz und ballte noch einmal die linke Faust.

Text: Marion Lühring