Berlin, 4.9.2022 – Die Bundesregierung hat sich Zeit gelassen, wieder einmal. Obwohl seit einigen Monaten schon in vielen Haushalten oft das Monatsende noch nicht in Sicht, aber das verfügbare Einkommen schon ausgegeben ist, haben die Ampelkoalitionäre wieder wochenlang miteinander gerungen, um das nun dritte Entlastungspaket auf den Weg zu bringen. Haben viel Zeit verstreichen lassen, um auf die steigenden Preise bei der Energie und in den Supermärkten zu reagieren. Der große Wurf, der vor allem die am stärksten Betroffenen absichert und unterstützt, ist es nicht geworden. „Die Parteien der Ampelkoalition haben mit dem jetzt vorgelegten dritten Entlastungspaket einige der Forderungen von ver.di aufgegriffen, das ist ein Erfolg“, sagt der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke in einer ersten Reaktion auf das neue Pakete. Richtig sei es, „allerdings auch überfällig, dass jetzt auch Rentner*innen und Studierende eine Einmalzahlung von 300 Euro beziehungsweise 200 Euro erhalten sollen“, so der ver.di-Chef.
Auch der geplante höhere Wohngeldzuschuss, der statt rund 600.000 Bedürftigen rund zwei Millionen zugute kommen soll, sei zu begrüßen. Wohngeldempfänger*innen können bereits noch in diesem Jahr mit Heizkostenschüssen von mehreren hundert Euro rechnen. Aber es sei „keine angemessene Lösung, Beschäftigte mit eher geringen Einkommen regelmäßig zu Wohngeldempfängern zu machen“, so Werneke. In dem dritten Entlastungspaket fehlten weitere direkte Zahlungen für Menschen mit eher niedrigen und mittleren Einkommen. Stattdessen würden erneut die sehr gut Verdienenden durch die bereits zuvor von Bundesfinanzminister Christian Lindner, FDP, angekündigten Steuerpläne mit bis zu 1.000 Euro entlastet.
Wenn Arbeitgeber auf Grundlage der von den Ampelparteien jetzt vorgesehenen Steuerbefreiung Energiekostenzuschüsse bezahlten, dann sei das angesichts der akuten Kostenbelastung vieler Beschäftigter angemessen und ebenfalls zu begrüßen. Das ändere dennoch nichts daran, dass in den stattfindenden und bevorstehenden Tarifrunden mit tabellenwirksamen Tariflohnsteigerungen auf die hohe Inflation geantwortet werden müsse, betont der ver.di-Vorsitzende. „Wir haben es leider mit dauerhaft steigenden Preisen zu tun, diese erfordern nachhaltig wirkende Entgelterhöhungen.“
Erfreulich sei aber, „dass der Bundesfinanzminister plötzlich neue Spielräume in Milliardenhöhe im Bundeshaushalt entdeckt hat – am Fetisch der Schuldenbremse festzuhalten, ist dennoch völlig unverständlich“, so Werneke. Und die geplante Einführung eines preiswerten bundesweiten Nahverkehrstickets könne nur dann erfolgreich gelingen, wenn gleichzeitig massive Investitionen in den Ausbau des ÖPNV erfolgten. Dazu gehöre vor allem auch mehr und besser bezahltes Personal. ver.di hat bereits im vergangenen Jahr darauf hingewiesen, dass nach zwei Jahrzehnten Sparmaßnahmen schon heute ein akuter Fachkräftemangel von 15.000 Beschäftigten bestehe. Bis zum Jahr 2030 würden zudem 100.000 Beschäftigte in den Ruhestand gehen, das ist jeder Zweite. Um in diesem Zeitraum die Ausbauziele zu erreichen würden nach Berechnungen der Gewerkschaft in den kommenden Jahren zudem zusätzlich 70.000 Beschäftigte benötigt.
Dass sich darüber hinaus die Forderung von ver.di nach einer Strompreisbremse für den Basisverbrauch von Haushalten im Gesamtpaket wiederfinde, sei gut. Wenn auch noch offen bleibe, bis zu welcher Höhe und zu welchem Preis diese umgesetzt werden soll. Und: Auf die gestiegenen Gaspreise bleibe die Ampelkoalition zudem nach wie vor eine Antwort schuldig. Insgesamt seien die jetzt vorgelegten Eckpunkte für ein Entlastungspaket deshalb nur ein halber Schritt, eine wirksame Preisbremse für Strom und Gas sei am Ende wesentlich. „Daran werden wir als ver.di. die Koalition messen“, betont Werneke.
Das Entlastungspaket enthält darüber hinaus noch weitere Komponenten, wie ein Bürgergeld in Höhe von 500 Euro, das ab dem 1.1.2023 Hartz IV ablösen soll, sowie ein erhöhtes Kindergeld von 18 Euro für die ersten beiden Kinder. Der Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien wird ebenfalls ab dem 1.1.2023 auf 250 Euro monatlich erhöht.
Marcel Fratzscher, Chefökonom und Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, twitterte: „Das dritte Entlastungspaket enthält gute Elemente, ist aber unausgegoren, verteilt Gelder zu sehr per Gießkannenprinzip und ignoriert den Klimaschutz. Letzteres ist auch für Fridays for Future Deutschland eine große Fehlanzeige unter allen Maßnahmen. „Das Entlastungspaket macht fossile Rückschritte und gibt keine gerechten Antworten“, heißt es in einem Tweet der jungen Klimarechtsbewegung. Und weiter: Einen der „größten Erfolge“, das 9-Euro-Ticket, nicht weiterzuführen, sondern 5-7-mal teurer zu machen, zeige, wie ambitionslos die Ampel dabei sei, klimagerechte Politik zu machen.
Berlin, 27.08.2022 – „Die Bevölkerung schaut voller Sorge auf die massiv steigenden Preise, insbesondere auf die explodierenden Energiekosten. Wir brauchen deshalb dringend ein drittes Entlastungspaket – und zwar eines, das gezielt die Menschen mit mittleren und eher niedrigen Einkommen unterstützt“, fordert der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke. Die Forderung wie die Sorgen sind mehr als berechtigt. Das 9-Euro-Ticket läuft Ende August aus, auch der Tank-Rabatt wird dann entfallen. Was bisher Entlastung in den Haushalten der Bevölkerung gebracht hat, wird sie nun zusätzlich zu den ohnehin stetig steigenden Energiekosten und Lebensmittelpreisen belasten. Die Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr oder mit dem Auto zur Arbeit werden wieder teurer für alle, die darauf angewiesen sind.
Wie dramatisch die Lage im bevorstehenden Herbst und Winter werden wird, kann niemand wirklich genau vorhersagen. Doch die Szenarien werden von Woche zu Woche düsterer. Gerade erst warnte Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, in einem langen Thread auf Twitter „vor einem gigantischen makroökonomischen Schock“, der Deutschland im kommenden Jahr bevorstehen könnte. Haupttreiber sind laut Dullien vor allen die rasant gestiegenen Gas- und Nahrungsmittelpreise. Wer sein Geld nur noch in die grundlegenden Kosten – Miete, Energie, Lebensmittel – stecken muss, fällt für anderen Konsum weg. Mit der Folge, dass die gesamte Wirtschaft schwächeln wird.
Schon Anfang 2019 – vor allen Krisen, mit denen wir jetzt konfrontiert sind – hatte nahezu jeder dritte in Deutschland Lebende am Ende des Monats kein Geld mehr auf seinem Konto. Inzwischen zehren immer mehr Menschen von ihrem Ersparten oder müssen sich verschulden. Das bekommen aktuell die Verbraucherzentralen zu spüren. Immer mehr Menschen hätten nichts mehr einzusparen, um den steigenden Kosten etwas entgegensetzen zu können, heißt es bei den Verbraucherschützern. Der Zulauf bei den Tafeln, die kostenlos Lebensmittelspenden verteilen, ist bis Mitte Juli 2022 bereits um 50 Prozent gestiegen. Über zwei Millionen Menschen stehen täglich bei den Tafeln im Land an. Und die schlagen jetzt Alarm.
Vor der nächsten Konzertierten Aktion im Bundeskanzleramt am 15. September erwartet ver.di daher ganz konkrete Maßnahmen. „Für dieses Jahr fordern wir eine weitere Energiepauschale in Höhe von 500 Euro; diese soll auch an Rentner*innen und Studierende und Leistungsempfänger*innen, beispielsweise von ALG II, ausgezahlt werden. Die Pauschale soll steuerpflichtig sein, so dass das höchste Netto bei den Menschen mit den niedrigsten Einkommen ankommt“, so Frank Werneke. Ab dem kommenden Jahr müsse dann ein Energiepreisdeckel wirken. Bei Gas und Strom müsse durch eine staatliche Förderung ein Grundbedarf auf dem Preisniveau des Jahres 2021 abgerechnet werden.
„Solche direkten Entlastungsmaßnahmen sind der richtige Weg; die Steuerpläne von Bundesfinanzminister Christian Lindner sind stattdessen teuer und unsozial“, sagt der ver.di-Vorsitzende. Der Bundesfinanzminister würde mit seinen Plänen in erster Linie Hochverdiener entlasten, während Menschen mit geringeren Einkommen, in absoluten Beträgen betrachtet, nahezu leer ausgingen. „Diese krasse soziale Schieflage ist nicht hinnehmbar – und das zusätzlich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich die Bundesregierung nicht traut, die Extragewinne von Konzernen abzuschöpfen“, kritisiert Werneke.
„Wir haben eine soziale Notlage“, sagt Marcel Fratzscher, Ökonom und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, im Interview mit der taz vom 27. August. Die Wirtschaft schrumpfe bereits. Fratzscher hält die Gasumlage, die zwar den wackelnden Energieversorger Uniper rettet, aber gesunde Unternehmen mit massiven Gewinnen, die sie wegen der gestiegenen Gaspreise gerade machen, ebenfalls begünstigt, für einen „riesigen Fehler“. Die Bundesregierung könne nicht die Verluste sozialisieren, indem nämlich alle Bürger*innen bei den Energiekosten zur Kasse gebeten werden, und auf der anderen Seite die Gewinne privatisieren. Mit einer funktionierenden Marktwirtschaft sei das nicht vereinbar. Mit einer sozialen Marktwirtschaft schon gar nicht. In der müssen auch die Löhne sozial gerecht sein. ver.di wird deshalb auch in den anstehenden Tarifrunden wie zuletzt bei der Lufthansa und an den Seehäfen Lohnsteigerungen fordern, die den steigenden Preisen gerecht werden.
Immerhin: Bundeskanzler Olaf Scholz, SPD, und Lars Klingbeil, SPD, haben am 26. August zum Wahlkampfauftakt der SPD zur Landtagswahl in Niedersachsen ein drittes Entlastungspaket angekündigt, das auch Rentner*innen und Studierende und Menschen in der Grundsicherung mit einbezieht. Scholz kündigte in Cuxhaven zudem eine umfängliche Wohngeldreform und erneut das Bürgergeld an, das ab dem nächsten Jahr Hartz IV ablösen soll. Klingbeil sprach sich auf derselben Bühne für die Einführung einer Übergewinnsteuer auf Krisengewinne großer Unternehmen aus. Diese „Zufallsgewinne“ an Menschen mit geringen Einkommen umzuverteilen, sei schlichtweg eine Frage des sozialen Zusammenhalts in unserer Gesellschaft.
Text: Petra Welzel
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