Im Oktober 2022 hatte Bundeskanzler Olaf Scholz, SPD, zuletzt Wirtschaft, Gewerkschaften und Experten unter dem Motto „Konzertierte Aktion“ eingeladen, um an einem runden Tisch zu gemeinsamen Lösungen in der seinerzeit anhaltenden Krise von steigenden Preisen und drohender Energieknappheit zu kommen. Allerdings konnte Scholz schon im Herbst kaum erwarten können, dass sich die Gewerkschaften in den inzwischen laufenden und noch anstehenden Tarifrunden für rund 10 Millionen Beschäftigte zurückhalten werden. „Die Belastungen durch die hohe Inflation sind unbestreitbar – darauf braucht es jetzt Antworten“, hatte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke bereits nach der ersten Konzertierten Aktion Anfang Juli 2022 im Kanzleramt gesagt. Klar war und ist, die Gewerkschaften wollen sich nicht von der Politik in die Tarifautonomie hineinreden lassen. Die Politik hat schließlich ihre eigenen Hausaufgaben. „Wir als ver.di kämpfen mit unseren Mitgliedern für Tarifverträge, die eine Antwort auf die stark gestiegenen Preise geben“, so Frank Werneke.
Schon länger stand nun ein weiterer Runder Tisch im Kanzleramt für den 9. März 2023 an. Doch den wird es nicht mehr geben. Bis auf weiteres hat die Bundesregierung die „Konzertierte Aktion“ mit den Sozialpartnern nach drei Zusammenkünften auf Eis gelegt. Laut einem Schreiben an die Sozialpartner habe sich die wirtschaftliche Entwicklung im Land in den letzten Monaten stabilisiert. Das seien gute Nachrichten, und die Konzertierte Aktion habe dazu ihren Beitrag geleistet. „Für den Moment heißt dies, dass wir die konzertierte Aktion zunächst auf Stand-by-Modus schalten.“
Frank Werneke begrüßt das vorläufige Ende der konzertierten Aktion. Klare Ziele seien nur schwer erkennbar gewesen. Vor allem aber sei das Kanzleramt auf keinen Fall der passende Ort für Tarifverhandlungen. Die führt ver.di seit Beginn des Jahres für Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst bei Bund und Kommunen sowie bei der Deutschen Post. Unbestritten ist für den ver.di-Vorsitzenden, dass es auch ohne die Konzertierte Aktion weiter einen engen Austausch zwischen Politik und Sozialpartnern geben werde. Man könne der Bundesregierung keinesfalls vorwerfen, nicht regelmäßig den Austausch mit Wirtschaft und Gewerkschaften zu suchen. Man sei weiter im Austausch in der „Allianz für Transformation“ und auch über den branchenweiten Fachkräftegipfel. In diesen Runden werde nach konkreten Lösungen für die Zukunft des Arbeitsmarkts gesucht.
Vom „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft“ war die Rede, als 1967 der damalige Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) Vertreter von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden zu einer „Konzertierten Aktion“ einlud. Heute wie 1967 schwächelt die Wirtschaft und ruft nach Lohnzurückhaltung, viele Preise sind aber bereits so stark gestiegen, dass es für viele Menschen immer schwieriger wird, bis zum Ende des Monats noch mit ihren Einkommen durchzukommen.
Nicht nur ver.di fordert deshalb Lohnerhöhungen, die den gestiegenen Preisen gerecht werden. Der Druck in vielen Haushalten sei nach wie vor riesengroß, sagt der ver.di-Vorsitzende. „Wenn Beschäftigte beispielsweise Tarifgehälter zwischen 2.000 und 2.500 Euro beziehen, ist selbst eine Erhöhung von zehn Prozent angesichts der stark steigenden Preise nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Dauerhaft wirkende Festbeträge seien eine Lösung. Aktuell fordert ver.di in der Tarifrunde für die 2,5 Millionen Beschäftigten bei Bund und Kommunen einen Festbetrag von mindestens 500 Euro im Monat. Und obwohl Scholz im Vorfeld der Konzertierten Aktion klargestellt hatte, dass sich die Politik selbstverständlich nicht in Lohnverhandlungen einmischen wolle, klang sein Aktionsziel genau danach. „Gemeinsam mit den Sozialpartnern wollen wir diskutieren, wie wir mit der aktuellen Preisentwicklung umgehen“, hatte er erklärt, als er seine Einladung aussprach. Zum Ziel der Beratungen mahnte Frank Werneke an, dass es keinesfalls um Lohnverhandlungen gehen könne: „Die Politik sollte sich aus diesen Dingen heraushalten.“
Und deshalb erteilte der ver.di-Vorsitzende Scholz' Vorstoß, dass er den Beteiligten an seinem runden Tisch hohe steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen und dafür den Verzicht auf hohe Tarifforderungen vorschlagen wolle, auch gleich eine deutliche Absage in der Stuttgarter Zeitung: „Aus meiner Sicht helfen Einmalzahlungen in der derzeitigen Situation überhaupt nicht weiter. Richtig ist, es gab in der Corona-Pandemie – auch um nochmal Respekt auszudrücken für die besondere Leistung – eine ganze Reihe von Tarifabschlüssen mit steuer- und abgabenfreien Corona-Prämien. Aber das tarifpolitische Instrument ist aus meiner Sicht jetzt erst einmal verbraucht. Denn wir haben es mit absehbar dauerhaft steigenden Preisen zu tun. Die müssen mit dauerhaft wirkenden Tariflöhnen ausgeglichen werden. Alles andere führt sonst unterm Strich zu Reallohnverlust. Deshalb treten wir in den aktuellen Tarifverhandlungen klar mit dem Ziel an, dass durch eine Tariflohnsteigerung die Preisentwicklung ausgeglichen wird.“
Yasmin Fahimi, Anfang Mai 2022 zur neuen Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gewählt, sagte kurz nach ihrer Wahl im Bezug auf die Preisentwicklungen, die Gewerkschaften ließen sich „diesen Unsinn einer Lohn-Preis-Spirale wegen der grassierenden Inflation nicht aufquatschen“. Steigende Löhne hätten nicht zwangsläufig steigende Preise zur Folge. Wer daher angesichts der Lage von Lohnzurückhaltung rede, wolle wieder einmal die Kosten der Krise allein auf dem Rücken der Beschäftigten abladen. Der ver.di-Vorsitzende drückt es so aus: „Unser Kurs ist ganz klar: Dauerhaft steigende Preise müssen durch dauerhaft wirkende Tariflohnsteigerungen vollumfänglich ausgeglichen werden.“ Und das gelte in der Folge auch für Rentenanpassungen und den Mindestlohn. Gesprächsbedarf gibt es für Werneke deshalb allemal. Mit Blick auf die erste Runde beim Kanzler sagte er, dass angesichts der enormen Belastungen für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen bei den Entlastungen „nachgeliefert“ werden müsse, „insbesondere auch mit Blick auf die Lebensmittelpreise“, so Werneke. Und: „Sich dafür zusammenzusetzen ist aller Ehren wert und aus meiner Sicht auch absolut richtig.“
Auf eine konzertierte Aktion à la 1967 gab der ver.di-Vorsitzende allerdings von Anfang an nicht viel: „Es ist ein unglücklich gewählter Begriff. Wenn man einen Blick in die Geschichtsbücher wirft, dann weiß man, dass die konzertierte Aktion Ende der 60er Jahre grandios gescheitert ist.“ Auch der Revival-Versuch unter der Überschrift „Bündnis für Arbeit“ sei in den 90er Jahren misslungen.
Tatsächlich wollte seinerzeit die Große Koalition auf die erste Nachkriegsrezession der Jahre 1966/67 reagieren. Mit staatlichen Lenkungsmaßnahmen wollte die Regierung die Konjunktur beleben. Damals lag sie damit voll auf der Linie der Gewerkschaften. Schon in der Wirtschaftskrise der 1930er Jahren hatten diese ein Programm zur Wirtschaftsbelebung durch staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen befürwortet. Im Grundsatzprogramm von 1963 bekannte sich der DGB bereits zu einer Politik, nach der der Staat konjunkturell bedingte Auftragsausfälle durch verstärktes Engagement der öffentlichen Hand ausgleichen solle.
Für die Arbeitgeberverbände und die Bundesbank blieb die Konzertierte Aktion nach 1967 ein unverbindliches Diskussionsforum, in welchem die Spitzenverbände ihre Einschätzungen der gesamtwirtschaftlichen Situation austauschten. Für die Gewerkschaften hingegen ging die Aktion nicht auf. Es gab zwar weder für Arbeitgeber noch für Gewerkschaften bindende Vorgaben, dennoch hielten sich letztere in den Lohnrunden deutlich zurück. In der Folge sanken die Realeinkommen der Beschäftigten, die Wut der Gewerkschaftsmitglieder hingegen wuchs, vor allem deshalb, weil einige Konzerne trotz Wirtschaftskrise beachtliche Gewinne einfuhren. Letzteres ließ sich im Übrigen erneut auch in den zurückliegenden Corona-Jahren beobachten. Ende der 60er Jahre und in den 70er Jahren führte die Gemengelage schließlich in einigen Bereichen zu wilden Streiks.
Die Bundeszentrale für politische Bildung zieht in ihrem Handwörterbuch des politischen Systems folgendes Fazit: Die Konzertierte Aktion sei „ihrem Namen nie gerecht geworden und kann eher als institutionalisierte, gruppenbezogene und quantifizierte ,Seelenmassage‘ mit eng begrenzten Folgen charakterisiert werden.“
Er ist in der veröffentlichten Meinung der personifizierte gewerkschaftliche Buhmann: Heinz Kluncker, ÖTV Vorsitzender von 1964 bis 1982. Was hat ihm diese Ehre eingetragen? Mit seiner ÖTV streikte er im Februar 1974 ganze drei Tage und erreichte ein Tarifergebnis von 11 Prozent mehr Gehalt und Lohn, mindestens 160 Mark. Für die veröffentlichte Meinung, so nannte Heinz Kluncker die Presse, noch heute ein Teufelswerk.
So schreibt Nikolaus Doll in der „Die Welt“ am 22. Juni 2022: „Der ÖTV-Abschluss verstärkte eine verhängnisvolle Lohn-Preis-Spirale und damit die aufkommende Wirtschaftskrise – Deutschland rutschte in eine Stagflation.“ Und der FOCUS, das Handelsblatt sowie die WirtschaftsWoche stimmen abermals in das Propaganda-Mantra ein.
Ein Schelm, der sich in der aktuellen wirtschaftlichen Lage kurz vor Bekanntgeben der Tarifforderung der IG Metall was dabei denkt, dass diese alte Geschichte zum wiederholten Male aufgewärmt wird.
Zur Klarstellung: Das ist historischer Unfug. Geschichtsklitterung nennt man das. Die Fakten: Die Inflationsrate lag: 1972 bei 5,4 Prozent; 1973, also vor dem Streik, bei 7,1 Prozent; 1974, im Jahr des Streiks, bei 6,9 Prozent; danach fiel sie kontinuierlich weiter bis 1978 auf 2,7 Prozent! Wo bleibt denn da die „Lohn-Preis-Spirale“?
Und die ÖTV? In den Jahren 1972 und 1973 hatte sie Lohn- und Gehaltsabschlüsse unterhalb der Inflationsrate akzeptiert (1972: 4 Prozent, 1973: 5,4 Prozent). 1974 ging es also auch darum, mit den 11 Prozent den Kaufkraftverlust der Beschäftigten im öffentlichen Dienst aus den vergangenen Jahren auszugleichen.
Es gleicht einem Kampf gegen Windmühlen: Historische Fakten gegen antigewerkschaftliche Propaganda. Doch wir haben den längeren Atem!
Hartmut Simon, Historiker und ver.di-Archivar
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