Im Durchschnitt steigen in diesem Jahr die Tariflöhne um 5,6 Prozent, so eine Auswertung des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Wenn man die Inflationsrate von 2,4 Prozent abzieht, bleibt ein realer Lohnanstieg von 3,1 Prozent. Allerdings sind die vergangen drei Jahre mit massiven Kaufkraftverlusten damit erst zur Hälfte kompensiert.
„Die Inflation war ab 2021 derart plötzlich und unerwartet in die Höhe geschossen, dass die Gewerkschaften in laufenden Tarifrunden gar nicht so schnell reagieren konnten“, erläutert Norbert Reuter, Leiter der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung in ver.di. Und während Unternehmen durch höhere Preise automatisch steigende Einnahmen haben, müssten sich Beschäftigte mit ihren Gewerkschaften höhere Löhne als Ausgleich für höhere Preise immer erst erkämpfen, so Reuter.
Nachdem die Reallöhne in den ersten beiden Inflationsjahren zunächst um 5,3 Prozent gefallen waren, sei 2023 bereits wieder annähernd ein Ausgleich gelungen. In die aktuelle Statistik des WSI sind sowohl die in den Vorjahren für 2024 vereinbarten Tariferhöhungen als auch die im ersten Halbjahr 2024 getätigten Neuabschlüsse eingeflossen. Die Neuabschlüsse fielen sogar mit durchschnittlich 7,6 Prozent noch stärker aus, da in großen Tarifbranchen Abschlüsse getätigt wurden. Beispielsweise im Einzelhandel und dem Groß- und Außenhandel, wo die letzte Tariferhöhung bereits mehrere Jahre zurücklag und der Nachholbedarf besonders groß war.
Einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Tariflöhne leisten laut WSI in 2024 auch die Inflationsausgleichsprämien, die in nahezu allen großen Tarifbranchen wie auch in vielen kleinen Tarifbereichen vereinbart wurden. „Allerdings sind die Inflationsausgleichsprämien als Einmalzahlungen durchaus ein zweischneidiges Schwert“, sagt der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Prof. Dr. Thorsten Schulten. Der Wegfall der steuer- und abgabenfreien Prämien in 2025 wirke sich dann dämpfend auf die Lohnentwicklung aus.
Insgesamt liegt das preisbereinigte Niveau der Tariflöhne in 2024 noch deutlich unter dem Spitzenwert des Jahres 2020. „Damit besteht bei der Tariflohnentwicklung weiterhin ein erheblicher Nachholbedarf“, betont Schulten.
Insgesamt sind für knapp 19,7 Millionen Beschäftigte Tariferhöhungen vereinbart worden, die im Laufe des Jahres 2024 wirksam werden. Für knapp 11,6 Millionen Beschäftigte wurden diese Tariferhöhungen bereits 2023 oder früher in Tarifverträgen mit mehrjähriger Laufzeit festgelegt. Hinzu kamen im ersten Halbjahr 2024 neue Tarifvereinbarungen für mehr als 8 Millionen Beschäftigte, darunter die Chemische Industrie, das Bauhauptgewerbe und der Einzelhandel.
„Die Auswertung zeigt, dass Tarifbindung ein wichtiges Instrument ist, um für viele Menschen materielle gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten“, betont die wissenschaftliche Direktorin des WSI, Prof. Dr. Bettina Kohlrausch. „Das reduziert auch die Einkommensungleichheit und stabilisiert in einer Zeit, in der sich viele Menschen Sorgen um die soziale Ungleichheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt machen, die Gesellschaft als Ganzes. Schon deshalb sollten wir alle ein Interesse an einer hohen Tarifbindung haben und diese stärken.“