„Beschäftigte in der Altenpflege und pflegebedürftige Menschen dürfen nicht länger gegeneinander ausgespielt werden“, forderte ver.di Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler bei der Präsentation der Umfrage-Ergebnisse in der Bundespressekonferenz. „Die Logik muss durchbrochen werden, wonach jede Verbesserung bei Arbeitsbedingungen und Löhnen bei den Beschäftigten zu höheren Kosten für die Pflegebedürftigen führt. Wir brauchen eine Pflegevollversicherung, die solidarisch finanziert wird. Wir brauchen die Solidarische Pflegeversicherung“, sagte Bühler.
Eine qualitativ gute Versorgung pflegebedürftiger Menschen brauche ausreichend Personal, erläuterte sie weiter. Ausreichend Personal gewinne man nur mit guten Arbeitsbedingungen und angemessener Bezahlung für diese verantwortungsvolle und physisch und psychisch belastende Arbeit. Hinzu käme die alternde Gesellschaft: Laut einer Berechnung der Barmer würden schon mit dem heute völlig unzureichenden Personalschlüssel bis 2030 allein in der stationären Altenpflege 180.000 Pflegekräfte mehr gebraucht, sagte Bühler. Um bedarfsgerecht arbeiten zu können, würde heute 36 Prozent mehr Personal benötigt. „36 Prozent!“, sagte Sylvia Bühler weiter, „da muss sich niemand wundern, dass die Pflegekräfte ausgebrannt sind. Kein Industriezweig kann es sich leisten, seinen Betrieb mit 36 Prozent zu wenig Personal zu fahren.“ Die steigenden Kosten dürften aber nicht allein den pflegebedürftigen Menschen aufgebürdet werden: „Deshalb brauchen wir eine Pflegevollversicherung, die alle pflegebedingten Kosten übernimmt – egal ob stationär, teilstationär oder zu Hause gepflegt wird. Das Konzept von ver.di heißt Solidarische Pflegegarantie. Indem man die Einnahmebasis der Pflegeversicherung erweitert, ist eine Finanzierung gut möglich. Dazu müssen alle Einkommensarten, also auch Einkünfte aus Kapitalvermögen herangezogen und die gesamte Bevölkerung solidarisch einbezogen und die private und gesetzliche Pflegekasse zusammengeführt werden“, sagte Bühler.
Pflegebedürftigkeit wird zur Armutsfalle
Derzeit müssen Pflegebedürftige im ersten Jahr ihres Aufenthaltes in einem Pflegeheim durchschnittlich rund 2.700 Euro pro Monat selbst aufbringen. Davon entfallen allein auf die pflegerische Versorgung rund 1250 Euro. Der Rest setzt sich zusammen aus Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie Investitionskosten. Nur eine kleine Minderheit von 14 Prozent geht laut Umfrage davon aus, diese Kosten im Pflegefall selbst stemmen zu können. Lediglich 6 Prozent der Befragten halten Zusatzkosten trotz Pflegeversicherung in dieser Höhe für angemessen. Besorgniserregend ist laut dem Bündnis, dass eine große Mehrheit von 76 Prozent) deutlich unterschätzt, was sie im Falle von Pflegebedürftigkeit in einem Heim zahlen müssten. Auch Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, macht die Sache dringlich: „Wenn die Pflegeversicherung nicht endlich solidarisch ausgebaut wird, werden immer mehr Menschen von den hohen Kosten bei Pflegebedürftigkeit kalt erwischt. Pflegebedürftigkeit entwickelt sich immer mehr zu einer Armutsfalle. Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung die Pflegeversicherung aus der Sackgasse holt und den Menschen mit einer Pflegevollversicherung Sicherheit gibt“.
Eine verlässliche und bedarfsgerechte Pflegearbeit brauche es auch zur Fachkräftesicherung in anderen Branchen, ergänzte Sylvia Bühler in der Bundespressekonferenz. Angehörige von pflegebedürftigen Menschen sollten nicht ihre Erwerbstätigkeit aufgeben müssen und es sei daher eine zentrale volkswirtschaftliche Frage, wie es gelingt, die Pflegearbeit attraktiv zu machen. Laut dem DGB-Index Gute Arbeit geht nur jede vierte Pflegekraft davon aus, bis zur Rente im Beruf arbeiten zu können. Weit mehr als 60 Prozent der Pflegekräfte in der Langzeitpflege arbeiten in Teilzeit. Neben frei gewählter Teilzeitarbeit reduzieren viele aufgrund der extremen Belastung die Arbeitszeit. Dennoch bieten Arbeitgeber auch nur Teilzeitstellen an und machen damit das Arbeitsfeld für Arbeitnehmer*innen unattraktiv. Erschwerend hinzu kommen sinkende Ausbildungszahlen. Sylvia Bühler dazu: „Ein Drittel der Auszubildenden bricht die Ausbildung vorzeitig ab. Wie der ver.di-Ausbildungsreport Pflege 2021 zeigt, spiegeln sich auch hier die schlechten Arbeitsbedingungen wider. Hoher Zeitdruck (62 Prozent) , mangelnde Vereinbarkeit von Berufs-und Privatleben (48 Prozent) sowie fehlende Pausen (43 Prozent). Da braucht sich niemand wundern, wenn viele ihre Ausbildung abbrechen bzw. nach der Ausbildung nicht in der Altenpflege arbeiten zu wollen“, bilanziert Bühler und verweist auf die Studie „Ich pflege wieder, wenn…“. Sie zeigt auf: Es mangelt nicht an Pflegekräften. Es mangelt an Pflegekräften, die bereit sind, unter diesen Bedingungen zu arbeiten.
Pflegebedingte Kosten müssen solidarisch getragen werden
Gestoppt werden muss auch das Abwandern von Altenpflegekräften in die Krankenhäuser, erläuterte Bühler. Hier bestehe eine Gehaltslücke in Höhe von monatlich durchschnittlich 460 Euro: „Der Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst TVöD macht bei der Bezahlung für Pflegekräfte in Alten-und Krankenpflege keinen Unterschied. Für die Pflege konnten wir in den letzten Jahren einige Erfolge verbuchen. Allein durch den Tarifabschluss in diesem Jahr wird es Entgeltsteigerungen zwischen 341 und 412 Euro mehr Brutto im Monat geben. Auch die Ausbildungsentgelte wurden um 150 Euro monatlich erhöht.“ Doch vor allem kommerzielle Anbieter verweigerten ihren Beschäftigten den Schutz eines Tarifvertrages. „Viele Probleme lassen sich lösen“, schloss Bühler, „wenn alle pflegebedingten Kosten durch eine Pflegevollversicherung solidarisch getragen werden.“ Sie forderte die Bundesregierung dringend dazu auf, zu handeln.
Das Bündnis für eine solidarische Pflegevollversicherung setzt sich für eine Pflegeversicherung ein, die alle pflegebedingten Kosten übernimmt – unabhängig davon, ob es sich um stationäre oder ambulante Pflege handelt. Auch die familiäre Pflege darf nicht aus dem Blick geraten. Andernfalls drohten Überlastung und Unterversorgung, weil notwendige Leistungen aus finanziellen Gründen nicht in Anspruch genommen werden: “Sämtliche durch einen unabhängigen pflegerischen-medizinischen Dienst für bedarfsgerecht erachtete Pflegeleistungen müssen in vollem Umfang und ohne Eigenanteile vollständig von den Kassen finanziert werden”, so die gemeinsame Forderung des vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di initiierten Bündnisses mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK), Sozialverband Deutschland (SoVD), Bundesverband der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen (BKSB), Deutschen Frauenrat, BIVA-Pflegeschutzbund, der Volkssolidarität und AWO. Die repräsentative Umfrage wurde vom 1.August bis 7. August 2023 vom Markt-und Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag des Bündnisses durchgeführt. Insgesamt wurden 1010 Personen über 18 Jahre befragt.
Der gemeinsame Aufruf des Bündnisses ist auf www.solidarische-pflegevollversicherung.de abrufbar.