Berlin, 7. November 2019 – Die Schaffung von 144 Stellen in der Pflege, geregelte Ausgleiche für Mehrarbeit und die Verbesserung der Relation von Pflegekräften zu Pflegebedürftigen sind die Eckdaten des Tarifvertrages „Entlastung“, der jetzt am Universitätsklinikum Jena abgeschlossen worden ist. Und das setze bundesweit neue Maßstäbe für die Entlastungsbewegung an Krankenhäusern, so der ver.di-Verhandlungsführer Bernd Becker. Doch diese Maßstäbe müssen auch hartnäckig erstritten werden.
Wenn es um das Thema Entlastung geht, fühlen sich branchenübergreifend alle Beschäftigten angesprochen. Wenn es bei der Entlastung um Klinikpersonal geht, etwa auf einer Intermediate Care Station, geht es um Menschenleben. Bei akuten Brustschmerzen und anderen unklaren Beschwerden im Brustbereich, die möglicherweise auf einen Infarkt hindeuten können, sind die Mitarbeiter der Intermediate Care Station (IMC) gefragt. Darüber hinaus werden auf der IMC alle akuten internistischen Erkrankungsbilder behandelt und überwacht, bei denen eine unmittelbare Lebensgefährdung droht (wie im Falle einer Magenblutung, Lungenentzündung, von Infektionen oder kritischen Tumorerkrankungen). Wer im IMC behandelt wird, benötigt ausgeschlafenes, perfekt ausgebildetes und hoch motiviertes Personal. Die Situation auf den Intensivstationen in Jena ist bisher hingegen besorgniserregend. Über 100 Gefährdungsanzeigen in den letzten zwei Jahren sprechen eine deutliche Sprache.
Bei der Einstellung wird Bewerber*innen ein Pflegeschlüssel von 1:4 zugesichert, die Realität liegt bislang aber bei teilweise 1:6. Das Einspringen aus der Freizeit heraus ist normal, eine Ablösung in den Pausen oftmals nicht eingeplant. Diese Situation fand Philipp Motzke, ver.di-Gewerkschaftssekretär in Jena, bei seinen ersten Kontakten zum Universitätsklinikum Jena (UKJ) vor. Der Handlungsbedarf war offensichtlich. Unzählige Gespräche mit den Beschäftigten, Gründung eines ver.di-Vertrauensleutekörpers, Konzeptentwicklungen und kleinere Aktionen bestimmten fortan den Arbeitsalltag des Gewerkschafters.
Anfang Mai 2018 haben die Beschäftigten der IMC 1 am Universitätsklinikum dem Vorstand schließlich ein Ultimatum gestellt. Sie forderten acht zusätzliche Vollzeitstellen, zogen die Bereitschaft zum Einspringen aus der Freizeit zurück, nahmen konsequent ihre freien Tage und gönnten sich die ihnen zustehenden Pausenzeiten. Wenig später schlossen sich die Beschäftigten der IMC 2 an, ebenfalls eine Interdisziplinäre Station mit vier Fachabteilungen und 22 Betten. Teilweise muss eine Pflegefachkraft hier sechs bis sieben Patienten versorgen.
Ende Dezember 2018 waren die Forderungen noch immer nicht umgesetzt, die Frist fürs Ultimatum lief ab. Mit einer Mahnwache wurde am 28. Dezember 2018 ein weiteres öffentliches Signal vor dem Klinikum gesetzt. Die Reaktion des Vorstandes war vorhersehbar, Drohgebärden gegenüber den Beschäftigten wurden forciert. Das Aktionsbündnis verbreitet im April 2019 den „Jenaer Klinikums-Aufschrei“: „Mehr von uns ist besser für alle.“ Dazu veröffentlichte das Bündnis auch alarmierende Berichte von Beschäftigten. „Wir hetzen durch die Gänge, gehen ausgebrannt nach Hause und retten in der Zwischenzeit Leben“, so die erschütternde Schilderung einer Stationsschwester.
Um den Druck auf die politisch Verantwortlichen zu erhöhen, gründete sich im Juni 2019 das „Jenaer Bündnis für mehr Pflegekräfte“, dem sich weitere Gewerkschaften und Organisationen anschlossen. Mit über 700 Beschäftigten wurde ein „Belastungscheck“ durchgeführt, bei dem über 90 Prozent der Befragten angaben, dass sie sich gehetzt fühlten und Auswirkungen auf die Qualität der Arbeit befürchteten. Fast 80 Prozent von ihnen verzichte auf ihre gesetzlichen Pausen. Die nächste Eskalationsstufe wurde eingeläutet, der Vorstand bekam die Aufforderung, in Tarifverhandlungen einzutreten. Das Ziel: Entlastung der Beschäftigten. Eine Petition mit über 1.300 Unterschriften wurde im Juli der Regierungsfraktion überreicht.
Eine Petition ist eines der vielfältigen Mittel, die ein Team von ver.di-Organizern im Klinikum einführte. Luigi Wolf, von Beginn an dabei, sagt: „Ein Beschäftigten-Potenzial wie im Klinikum Jena muss mit strukturiertem Herangehen überzeugt werden.“ Sehr schnell sei klar geworden, dass Gehaltsfragen nicht alles seien. Bei den Beschäftigten stehe das Berufsethos im Vordergrund – sie wollen alles für das Wohl des Patienten tun. Über alle Stationen am UKJ wurden daher Teams installiert, die Delegierte benannten, vergleichbar mit Vertrauensleuten, die wiederum in engem Kontakt mit dem Organizing-Team standen. „Allein bei einer Verhandlungsrunde saßen 129 Delegierte im Hintergrund, die ständig über den Verhandlungsverlauf informiert wurden“, sagt Wolf. Das sei fast ein Novum, nur im Saarland würde so gearbeitet.
Das Ergebnis könnte über die zusätzlichen Pflegekräfte hinaus eine Steilvorlage für alle Krankenhäuser sein, die noch verhandeln. So wurden für die einzelnen Stationen und Bereiche auch konkrete Zielwerte festgeschrieben, für wie viele Patient*innen eine examinierte Pflegekraft in der jeweiligen Schicht zuständig ist. Die Zielwerte liegen deutlich über der bisherigen Personalbesetzung. Mit Ausnahme weniger kleiner Stationen müssen nachts künftig zwei examinierte Pflegekräfte anwesend sein. In jedem OP-Saal werden mindestens zwei OP-Fachkräfte und eine Anästhesie-Fachkraft eingesetzt.
Der Knackpunkt bei allen Tarifverhandlungen für Entlastung war bisher stets die Frage, was geschieht, wenn die Mindestbesetzungen unterschritten werden. Im Universitätsklinikum des Saarlandes wurden vor gut einem Jahr erstmals zusätzliche freie Tage als Belastungsausgleich vereinbart. In Jena wird dieser Freizeitausgleich nun noch schneller fällig: Wenn Beschäftigte ab April 2020 sechs Mal in Unterbesetzung arbeiten oder freiwillig außerhalb des Dienstplans einspringen, bekommen sie einen zusätzlichen Tag frei. Für 2020 ist dieser Anspruch allerdings noch auf fünf Tage gedeckelt. Darüber hinausgehende Tage werden mit jeweils 150 Euro abgegolten. 2021 können zehn, im folgenden Jahr 15 und danach unbegrenzt viele Entlastungstage zusammenkommen. „Mit diesem Tarifvertrag senken wir in Zukunft die Belastung der Beschäftigten deutlich“, sagt Bernd Becker.