Berlin, 28. November 2019 – Als Joly Talukder Anfang November in Erfurt auf dem 12. Frauenpolitischen Ratschlag über die Lage der Textilarbeiterinnen in ihrem Heimatland Bangladesch sprach, hatte sie keine guten Nachrichten. „Die Lage der Textilarbeiterinnen ist sehr schlecht, so dass wir uns normalerweise monatlich für 25 bis 30 Fabriken einsetzen müssen. Frauen arbeiten innerhalb der Fabrik und kämpfen außerhalb der Fabrik um ihre Rechte“, sagte Talukder, die Vorsitzende der Textilarbeiterinnen-Gewerkschaft in Bangladesch. Wenn an diesem Black Friday und Cyber Monday wieder millionenfach heruntergesetzte Textilien über Ladentheken geschoben oder online bestellt werden, wird die Lage der Textilarbeiterinnen in Bangladesch das Letzte sein, woran die Schnäppchenjäger*innen dabei denken. Man muss sie immer wieder daran erinnern, genauso wie die großen Textilkonzerne, die diese Bedingungen mit zu verantworten haben. Ein Lieferkettengesetz, wie es derzeit die Initiative Lieferkettengesetz fordert, zu deren Trägerorganisationen auch ver.di gehört, könnte sie zukünftig für ihre Geschäftspraktiken haftbar machen. Und zwar entlang ihrer gesamten Liefer- und Produktionskette.
Seit der Rana-Plaza-Katastrophe vom April 2013, bei der durch den Einsturz eines Textilfabriken-Komplexes nahezu 1.200 Menschen starben und knapp 2.500 Textilarbeiter*innen teils schwer verletzt wurden, haben sich die Arbeitsbedingungen der vor allem weiblichen Beschäftigten in der Textilindustrie in Bangladesch so gut wie nicht verändert. Auch der Ausbau von Fabrik-Inspektionen seither hat ihre Arbeit weder sicherer noch besser gemacht.
„Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe, Belästigung und Unterdrückung von Frauen haben ein beispielloses Maß an Brutalität und Häufigkeit erreicht“, berichtete Joly Talukder in Erfurt weiter. Laut Statistiken seien 2018 in Bangladesch insgesamt 356 Kinder vergewaltigt worden, 22 seien an den Folgen der Übergriffe gestorben. „Wenn wir verschiedene Berichte aus 14 Tageszeitungen in Bangladesch für 2019 zusammenstellen, kann die Barbarei der Situation maßstabsgetreu dargestellt werden“, fuhr Talukder fort. Laut diesen Berichten wurden 2.083 Übergriffe gezählt, darunter 731 Vergewaltigungen, 113 Bandenvergewaltigungen und 275 Opfer, die den Verletzungen, die sie während der Übergriffe erlitten, erlagen. Heute mag die Statik der Gebäude in Bangladesch besser sein, die Statistik über die Auswirkungen der Arbeitsbedingungen ist noch immer verheerend.
Überstunden eingeschlossen verdienen Textilarbeiterinnen in Bangladesch heute nicht mehr als 150 Euro im Monat. Die meisten haben allerdings kaum mehr zum Leben als den gesetzlichen Mindestlohn von 83 Euro. Rund 4,5 Millionen Beschäftigte in der Textilindustrie versorgen mit diesen Niedriglöhnen 20 Millionen Menschen im Land, Bangladesch hängt mit seiner über 160 Millionen-starken Bevölkerung somit auch an der Nadel der Textilindustrie. Allein nach Deutschland hat das Land 2018 Güter für 5,8 Milliarden Euro geliefert, darunter vor allem Textilien.
Etwa 100.000 Mitglieder zählt die Textilarbeiterinnen-Gewerkschaft, deren Vorsitzende Talukder ist. „Aktuell kämpfen die Textilarbeiterinnen um Gewerkschaftsrechte“, so Talukder. In Bangladesch müssten Gewerkschafter*innen aber staatlich registriert sein, um Beschäftigte in einer Fabrik gewerkschaftlich überhaupt organisieren zu können. Regierungsnahe Gewerkschaften erhielten eine Registrierung, aber keine freien Gewerkschaften wie die ihrige. „In den letzten Monaten haben wir Anträge für zehn Betriebsgewerkschaften eingereicht, das Regierungsamt lehnte jeden Antrag ab.“
Ein Lieferkettengesetz könnte die Gewerkschafter*innen in ihren Rechten vor Ort und gegenüber den Auftraggebern aus Deutschland stärken und in Schadensfällen absichern. Joly Talukder hat in Erfurt zum ersten Mal von der Initiative hierzulande erfahren. Ein solches Lieferkettengesetz, sagte sie, könnte „eine Waffe sein“ im Kampf der Textilarbeiterinnen um die Gewerkschaftsrechte. „Es würde uns sehr helfen.“
Text: Petra Welzel