Bei Zustellern, die in den Jahren 2017 bis 2019 per App in Spanien für Amazon arbeitet, handelte es sich um Scheinselbständige. Das stellte Anfang Februar das Sozialgericht in Madrid fest. Die Organisation der Paketzustellung per digitaler Plattform erfülle „die Elemente der Abhängigkeit“, heißt es unter anderem in dem Urteil. Amazon ist somit dazu verurteilt, 2.166 Auslieferer wie Festangestellte zu behandeln. Das bedeutet auch, dass auf Amazon – sobald das Urteil rechtskräftig ist – eine Rechnung der Sozialversicherung zukommt. Denn diese kann die entgangenen Beiträge nachfordern.
Bei den Zustellern, die geklagt hatten, handelt es sich um Amazon-Fahrer, die über die App Amazon Flex beauftragt werden. Unterstützt werden sie durch die sozialdemokratische Gewerkschaft UGT. Die Betroffenen seien „gezwungen worden, mit ihren eigenen Fahrzeugen zu arbeiten und Pakete mithilfe einer Unternehmens-App zu verteilen über die sie ihre Anweisungen bekamen“, erklärt Patricia Ruiz, aus dem Regionalvorstand der UGT in Madrid und zuständig für die Zulieferer verschiedener Internetplattformen. „Das Urteil weitet die Definition dessen aus, was ein Arbeitsvertrag ist“, sagt die UGT-Sprecherin.
„In Deutschland ist Amazon Flex seit Juli 2022 ebenfalls Geschichte“, sagt der Bereichsleiter Logistik beim ver.di-Bundesvorstand, Stefan Thyroke. Amazon tätigte seinerzeit eine freiwillige Ausgleichszahlung an die Bundesrentenversicherung, um Tausenden von Verfahren zu entgehen. Seither sind alle Zusteller bei Subunternehmen angestellt. „Viel besser ist das auch nicht“, sagt Thyroke. Sie würden meist zu den absoluten gesetzlichen Mindestbedingungen arbeiten. „ver.di verlangt deshalb, dass von der Bundesregierung der Einsatz von Subunternehmen verboten wird“, fügt der Logistik-Fachmann hinzu.
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Das Amazon-Urteil des Sozialgerichts in Madrid stützt sich auf einen Spruch des Obersten Gerichtshofs vom 25. September 2020. Auch dieses Verfahren ging auf Anzeigen der UGT zurück. Damals wurde Glovo, ein großer spanischer, international tätiger Lieferdienst für Essen und Lebensmittel verurteilt. Dessen Zusteller wurden ebenfalls als Scheinselbstständige eingestuft. Auch sie arbeiten mit einer App auf dem Smartphone. Das Oberste Gericht sah in diesem Fall ebenfalls ein „allgemeines Arbeitsverhältnis“ gegeben. Glovo sei eben nicht – wie vom Unternehmen behauptet – reiner Vermittler zwischen Händler und Zusteller. Daraufhin brachte die spanische Regierung im August 2021 das sogenannte „Rider-Gesetz“ durchs Parlament, das diese Art von Scheinselbständigkeit, wie sie jetzt auch wieder bei Amazon festgestellt wurde, verbietet. Ob Amazon vor dem Obersten Sozialgericht Widerspruch einlegt, ist noch offen.
Mit Blick auf den Fall Glovo sind die Chancen für Amazon eher gering. Glovo muss mittlerweile Millionen an Bußgeldern bezahlen. Erst im Januar wurde der 2015 gegründete spanische Lieferdienst, der in 1.500 Städten in 25 Ländern operiert, von der Gewerbeaufsicht in Madrid mit einer Strafe in Höhe von 32,9 Millionen Euro belegt. Das Unternehmen hatte trotz des Urteils aus 2020 und des Gesetzes von 2021 weiterhin scheinselbständige „Rider“ im Dienst. Zudem beschäftigt Glovo in Madrid Fahrer ohne Arbeitserlaubnis. Diese teilen sich üblicherweise einen Job mit einem „Rider“, der eine Arbeitserlaubnis hat. Damit ist ein und derselbe Zusteller angeblich bis zu 24 Stunden unterwegs. Das Unternehmen habe von dieser Praxis gewusst, ist sich die Gewerbeaufsicht sicher. Dafür werden weitere 5,2 Millionen Bußgeld fällig. Zusätzlich zu den Strafen muss Glovo für die Scheinselbständigen 19 Millionen Euro an die Sozialversicherung abführen.
Dies waren nicht die ersten Bußgelder gegen Glovo. In ganz Spanien hat die Gewerbeaufsicht bereits 205,3 Millionen Euro an Bußgeld gegen das Unternehmen verhängt. Hinzu kommen 125,3 Millionen Euro an die Sozialversicherung. Insgesamt geht es um mehr als 37.000 Rider. „Kein Unternehmen in Spanien, egal wie groß oder klein, steht über dem Gesetz“, erklärte die linksalternative Arbeitsministerin Yolanda Díaz angesichts der wiederholten Verstöße gegen das „Rider-Gesetz“ und erinnerte daran, dass bei besonders schweren Fällen den Verantwortlichen der Unternehmen Haftstrafen drohen.
Mittlerweile ist das Thema Zusteller auch auf EU-Ebene angekommen. „Die spanische Gesetzgebung dient jetzt in Brüssel als Vorbild“, sagt UGT-Sprecherin Ruiz. Das Europäische Parlament hat am 2. Februar mit 376 Ja-Stimmen und 212 Nein-Stimmen seine Position zur Förderung eines europäischen Gesetzes zum Schutz der Arbeitnehmerrechte auf digitalen Plattformen festgelegt. Es soll eine Art europäisches „Rider-Gesetz“ werden, ähnlich der spanischen Bestimmungen.
Text: Reiner Wandler