Entlastung mit Verzögerung

    Der 12. Mai ist der Internationale Tag der Pflegenden. Er geht zurück auf Florence Nightingale, der Wegbereiterin der Krankenpflege. Bedeutend jünger ist der Tarifvertrag Entlastung für die sechs Unikliniken in NRW, der nach harten Kämpfen im vergangenen Jahr abgeschlossen werden konnte.
    © ver.di
    Aktionsplakat zum Tag der Pflegenden
    11.05.2023

    Petra Bäumler-Schlackmann (56) ist stellvertretende Personalratsvorsitzende am Uniklinikum Essen und betreut dort den Pflegedienst. Sie ist Vertrauensleute-Leitungsmitglied, und sie war als Mitglied der Verhandlungsgruppe Tarifvertrag Entlastung (TV-E) 2022 oft vor Ort in Köln. Der Tarifvertrag gilt seit dem 1. Januar dieses Jahres.

    verdi.de: Was war dir besonders wichtig bei der Aushandlung des Entlastungstarifvertrags?

    Petra Bäumler-Schlackmann: Wichtig war das schichtgenaue Entlastungsmodell mit einer festgelegten Verhältniszahl, z. B. das Patienten- und Pflegekraftverhältnis für die Pflege auf den Stationen. Stimmt das Verhältnis in der Schicht nicht, hat die Pflegekraft einen „Entschädigungsanspruch“ auf einen sogenannten Belastungspunkt. Sieben solcher Punkte ergeben einen freien Tag. In unserer vorherigen Vereinbarung zu Entlastung hatte es keine Folgen, wenn sich der Arbeitgeber nicht an die Vorgaben gehalten hat. Uns war auch sehr wichtig, dass die Beschäftigten direkt etwas davon haben, wenn sie schon in einer Schicht mit zu vielen Patienten arbeiten müssen. Gerne hätten wir auch entlastende Verhältniszahlen für die Berufsgruppen außerhalb der Pflege ausgehandelt, was aber leider nicht gelungen ist. So dass diese wenigstens zum Teil in anderen Entlastungsmodellen des TV-E einen Personalaufbau in anderer Form erhalten.

    Der Tarifvertrag ist seit Anfang des Jahres in Kraft. Wie klappt es bisher mit der Umsetzung?

    Petra Bäumler-Schlackmann: Es funktioniert noch nicht. Im schichtgenauen Modell für die Pflege greift der tarifliche Anspruch auf Belastungspunkte wegen Nichteinhaltung der Verhältniszahl leider erst ab dem 1. Juli 2024. Die Arbeitgeber haben argumentiert, dass für die Einführung einer Verhältniszahlen-Erfassungssoftware für alle sechs Unikliniken eine sehr zeitaufwändige europaweite Ausschreibung notwendig wäre.

    Das klingt nach Hinhaltetaktik...

    Petra Bäumler-Schlackmann: Für die Kolleg*innen ist die zähe Umsetzung sehr enttäuschend und drückt auf die Stimmung im Betrieb. Die Beschäftigten sind der Auffassung, dass der Arbeitgeber bereits seit Januar die Verhältniszahlen einzuhalten hat. Das tut er aber unserer Meinung nach nicht, weil er eben keine Belastungspunkte zahlen muss. Das hatten wir uns anders gewünscht. Zumindest in zwei Unikliniken ist man eigentlich, seit unserer großen Arbeitskämpfe 2018, in der Maßnahmenergreifung zur Entlastung geübt, wie etwa Patientenverlegung, Bettensperrung und so weiter. Aktuell gibt der Arbeitgeber an, er bemühe sich, die Verhältniszahlen einzuhalten. 

     
    Porträtfoto Petra Bäumler-Schlackmann ist stellvertretende Personalratsvorsitzende der Uniklinik Essen
    © privat
    Petra Bäumler-Schlackmann ist stellvertretende Personalratsvorsitzende der Uniklinik Essen

    Also kann der Arbeitgeber sich zurücklehnen und das nächste Jahr gemütlich abwarten?

    Petra Bäumler-Schlackmann: Nicht ganz. Im Tarifvertrag ist vereinbart, dass es für die Einführungszeit bei dem schichtgenauen Modell bis Sommer 2024 fünf pauschale Entlastungstage gibt. Das hebt ein wenig die Stimmung im Betrieb. Kein Feuerwerk, aber die Beschäftigten merken, aha, ich kann diese Tage beantragen, das ist angenehm. Sie kommen zurzeit mit vielen konkreten Fragen zu den Entlastungstagen zu uns.

    Gleichen diese fünf Tage die eigentliche Anzahl der Entlastungstage aus?

    Petra Bäumler-Schlackmann: Mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ansatzweise. Aber auch das haben wir von Anfang an in den Verhandlungen transparent gemacht. Das war sowieso etwas ganz Besonderes bei diesen Verhandlungen: Die Transparenz und die stete Rückkoppelung mit den Streikenden. Es war ein ziemlicher Kraftakt, das alles bei sechs Unikliniken auf einen Schlag durchzusetzen. Wir haben da aber eine tolle Vernetzung unter den Kolleg*innen der sechs Unikliniken und ihrer verschiedenen Bereiche hinbekommen.

    Haben diese anderen Bereiche auch etwas von dem Abschluss?

    Petra Bäumler-Schlackmann: Ja, es war uns besonders wichtig, dass auch für die anderen Berufsgruppen eine Entlastung eintritt, weil man oft erst auf die Pflege guckt. Aber auch Servicebeschäftigte, MTRAs oder Physiotherapeuten u.a. brauchen die Entlastung dringend. Deshalb war es für uns wichtig, dass die Kolleg*innen dort nicht nur Brosamen abkriegen, sondern einen Personalaufbau. Sie haben natürlich alle das sogenannte schichtgenaue Entlastungsmodell bevorzugt, also eine schichtgenaue Besetzung. Das war aber nicht aushandelbar, also wurden für sie bereichsspezifische Alternativmodelle geschaffen. Die Beschäftigten bekommen jetzt einen prozentualen oder einen in Vollzeitstellenanzahl festgelegten Personalaufbau. Bis dies erfolgt ist, erhalten sie auch Entlastungstage. 

    Wie lautet also dein Zwischenfazit?

    Petra Bäumler-Schlackmann: Bei all den genannten Schwächen in der Umsetzung war es ein Riesenerfolg, dass sich die Beschäftigten von sechs ganz unterschiedlichen Unikliniken gemeinsam aufgemacht haben, um die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen in die eigenen Hände zu nehmen. Die unterschiedlichen Berufsgruppen haben sich kennengelernt und es ist ein Verständnis untereinander gewachsen, dass nicht nur der Pflegedienst am Limit arbeitet. Es gibt sicher Anlaufschwierigkeiten, aber auf jeden Fall wird es die Arbeitsbedingungen verbessern. Ich möchte andere Krankenhäuser unbedingt motivieren, sich auf den Weg zu machen.

    Interview: Jenny Mansch

     

    Was fordert ver.di anlässlich des Internationalen Tags der Pflegenden?


    • Dem Fachkräftemangel entgegenwirken

      ver.di fordert alle Verantwortlichen dringend auf, umgehend und entschlossen zu handeln, um dem immer weiterwachsenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Wie die aktuelle Sonderauswertung für die Pflege des Index für Gute Arbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes belegt, gehen 75 Prozent der Krankenpfleger*innen davon aus, ihren Beruf bei den derzeitigen Anforderungen wahrscheinlich nicht bis zur Rente ausüben zu können. In der Altenpflege geben dies 67 Prozent an. Die Sonderauswertung zeigt auch, dass die Beschäftigten in Folge der hohen Arbeitsbelastung Abstriche bei der Qualität gemacht haben.

      Ein Schlüssel zur Entlastung ist eine bedarfsgerechte Personalausstattung. Sowohl in den Kliniken als auch in der stationären Pflege müssen die Prozesse energisch vorangetrieben werden. Im betrieblichen Alltag müssen vor allem die Arbeitgeber deutlich mehr Anstrengungen unternehmen, um die Arbeit attraktiver zu machen. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz muss auch endlich im Gesundheitswesen ernstgenommen werden, bürokratische Prozesse gehören auf den Prüfstand und verlässliche Dienstpläne müssen endlich die Regel und nicht die Ausnahme sein.

       

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