Berlin, 19.8.2021 – „Der Streik ist unser letztes Mittel. Wir wissen uns nicht anders zu helfen“, sagt Stella, Pflegekraft in der Rettungsstelle an der Humboldtklinik in Berlin. Vor ihr stehen die Fraktionsvorsitzenden der Parteien des Berliner Abgeordnetenhauses hinter und neben ihr einige hundert Beschäftigte der Charité, der Vivantes-Kliniken und ihrer Tochterfirmen. Vom Anhalterbahnhof sind sie vorgerückt auf der Stresemannstraße bis zur Ecke der Niederkirchnerstraße. Im Abgeordnetenhaus tagt gerade das Berliner Landesparlament. Ganz ruhig wird es, als Stella erzählt, wie in der Rettungsstelle ein Mann nicht mehr reanimiert werden konnte und sie nicht einmal mehr die Zeit hatte, der Frau des Verstorbenen, die sich an sie geklammert hatte, auch nur für wenige Minuten zur Seite zu stehen. Der nächste Patient wartete schon. Ihr schlechtes Gewissen, der Angehörigen des Verstorbenen, der gesamten Situation nicht gerecht geworden zu sein, ging mit Stella mit.
Es ist der letzte Tag des Ultimatums, das 8.397 Beschäftigte der Berliner Krankenhäuser ihren Klinikleitungen, den Geschäftsführungen und dem Berliner Senat am 12. Mai gestellt haben. Doch weder ist der Tarifvertrag zur Entlastung der Beschäftigten, den sie ultimativ fordern, in Sicht noch die Ausweitung des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst auf alle Beschäftigten, also auch auf die Beschäftigten in den Tochterfirmen. Tatsächlich stehen alle Zeichen auf Streik.
Von den Hymnen aufs Pflegepersonal, die über ein Jahr lang das Leben tausender Coronapatienten gerettet haben und dabei täglich über ihre Grenzen gegangen sind, ist längst nichts mehr übrig geblieben. Von Vivantes gab es nicht einmal ein Gesprächsangebot. Im Gegenteil: Der Klinikkonzern ließ nichts unversucht, einen Streik zu verhindern. Erst per Gerichtsentscheid und als der nicht zustande kam, wurde Beschäftigten mit Kündigung gedroht, sollten sie sich an einem Streik beteiligen. Und über ver.di werden zudem vermehrt falsche Fakten gestreut. Die Gewerkschaft hätte einfach den Verhandlungstisch verlassen und somit die Notdienstvereinbarung platzen lassen. Meike Jäger, die zuständige ver.di-Sekretärin und Verhandlungsführerin empört das: „Ich war dabei. Wir sind nicht einfach aufgestanden, das ist gelogen, aber so wird derzeit Politik gemacht.“ Und es sei auch ver.di gewesen, die Wochenenddienste als Notdienste vorgeschlagen habe. In der Presse war hingegen zu lesen, die Arbeitgeberseite hätte sie vorgeschlagen und die Gewerkschaft hätte abgelehnt. „Das ist nicht die Wahrheit, das ist eine Schweinerei“, ruft Meike Jäger ärgerlich in die Menge.
Doch weder ver.di noch die Beschäftigten lassen sich davon einschüchtern. Wer in einer Acht-Stunden-Schicht nicht zum Trinken, nicht zum Essen und nicht einmal auf die Toilette kommt, hat nichts mehr zu verlieren. Für fast alle Beschäftigte, die heute hier sprechen, ist das der ganz normale Arbeitstag. Sie eilen von einem Patienten zur nächsten Patientin und gehen nach getaner Arbeit geschafft nach Hause, um festzustellen, wieder dem Anspruch an sich selbst, Menschen auf ihrem Weg zur Gesundung zu unterstützen, nicht gerecht geworden zu sein.
Und so sieht es nicht nur auf den Intensivstationen oder Rettungsstellen aus, sondern auch auf der Kardiologie oder der Entbindungsstation. Luisa arbeitet seit einem Jahr im Kreißsaal des Auguste-Viktoria-Krankenhauses. Sie schildert anschaulich, wie sie innerlich ausgezerrt und äußerlich mit Schweiß, Blut und Fruchtwasser durchtränkt ist nach einer Nachtschicht, in der sie zusammen mit einer Kollegin sieben Frauen bei der Geburt begleiten. „Heute Nacht bin ich acht Stunden nur gerannt. Ich habe acht Stunden nichts getrunken, hätte aber eh keine Zeit gehabt, zur Toilette zu gehen.“ Die Hebamme liest vor, was sie nach dieser Nacht aufgeschrieben hat, nachdem sie nicht in den Schlaf finden konnte.
Es sind nur Frauen, die ans Mikrofon gehen. Auch eine Ärztin ergreift das Wort und sagt: „Wir sehen euch und eure Lage und wir unterstützen euch.“ Auch wenn sie hier heute allein sei, so spreche sie doch für die Mehrheit ihrer Kollegen und Kolleginnen. So könne es nicht weitergehen in den Krankenhäusern.
Vor Stella wendete sich Jennifer, Mitarbeiterin in der Klinikkantine in Spandau, an die Politiker*innen. Sie erzählt, dass sie 800 bis 1.000 Euro weniger verdiene als ihre Kolleginnen, die nach dem TVöD bezahlt würden. Und das habe Folgen. Kolleginnen mit Kindern könnten von dem Einkommen nicht leben, sie müssten noch einen zweiten Job annehmen, um über die Runden zu kommen. „Mal ein Eis mehr oder auch mal in den Urlaub fahren, dass ist für viele einfach nicht drin. Ich habe die Schnauze voll davon, wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden. Das muss aufhören dieses Lohndumping“, fordert sie.
Klara, im 3. Ausbildungsjahr, ist es leid, zum 78.000sten Mal zu wiederholen, „wie scheiße die Arbeitsbedingungen sind und wie beschissen die Ausbildungsbedingungen sind“. 100 Tage hätten die Leitungen Zeit gehabt, mit den Auszubildenden ins Gespräch zu kommen, aber passiert sei nichts. Nichts, außer Druck auszuüben auf die Auszubildenden, weil sie angeblich kein Recht auf Streik hätten. Klara wird noch lauter und deutlicher: „Ich habe die Nase voll. 100 Tage sind abgelaufen, jetzt platzt der Mond. Ab Montag wird gestreikt, liebe Leute, ihr könnt euch gerne angucken, was passiert.“
Die 8.397 Beschäftigte, die das Ultimatum unterschrieben haben, machen jetzt ernst. Sie machen 63 Prozent aller Beschäftigten aus, die von den geforderten Tarifverträgen profitieren würden. Sollten die alle streiken, dann können Charité und Vivantes erleben, von dem Klinikleitungen bisher immer geglaubt haben, es trete sowieso nicht ein: Krankenhausbeschäftigte im Ausstand, die sie mit leeren Versprechungen nicht wieder zurückbekommen werden.
Text: Petra Welzel
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