Berlin, 24.02.2022 – Der Markt, der freie Wettbewerb, kann vieles regeln, aber nicht alles. Letzteres bekommen seit Jahren immer wieder Solo-Selbstständige zu spüren, die seit der Anpassung des deutschen Wettbewerbsrechts an das entsprechende Europarecht 2005 den freien Kräften des Markts ausgeliefert sind. Empfehlungen zu üblichen Vergütungen, wie es sie bis dato für verschiedene Branchen gegeben hat, in denen Solo-Selbstständige tätig sind, fielen weg. Die Europäische Union betrachtet Solo-Selbstständige wie klassische Unternehmen, die Kartelle bilden und Preise untereinander absprechen und so quasi den freien Wettbewerb ausschalten können. Doch solche Marktabsprachen mögen unter großen Konzernen immer wieder vorkommen, unter Solo-Selbstständigen gab und gibt es sie nicht.
ver.di ist mit über 30.000 Mitgliedern im Bereich der Solo-Selbstständigen die stärkste Organisation in Europa und will, dass die EU künftig den Abschluss von Tarifverträgen für Solo-Selbstständige aller Branchen erlaubt. Eine entsprechende Stellungnahme hat ver.di heute (24.2.) der EU-Kommission vorgelegt. Die EU-Kommission sucht derzeit nämlich nach Wegen, Einzelpersonen – vor allem Solo-Selbstständigen – bei der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen über Kollektivverträge mehr Rechtssicherheit zu geben. Dazu müsste diese Erwerbstätigengruppe allerdings aus dem europäischen Wettbewerbsrecht ausgenommen werden.
Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke erklärt, kollektive Tarifverhandlungen mit den Auftraggebern müssten ausnahmslos für alle Solo-Selbstständigen legalisiert werden, um die prekären Arbeitsverhältnisse in einzelnen Branchen zu verbessern. „Die Kommission darf sich weder in die Modalitäten noch in die Inhalte von Tarifverhandlungen und -verträgen einmischen. Dazu müssen wir ermächtigt werden, Honorarempfehlungen abzugeben, falls die Auftraggeber nicht zu Verhandlungen bereit sind“, fordert der ver.di-Vorsitzende. Man könne nicht weiter zulassen, dass Auftraggeber einseitig Honorare festlegen, während den Solo-Selbstständigen verwehrt wird, kollektiv Tarifverträge abzuschließen. „Die wirtschaftliche Abhängigkeit ist für Solo-Selbstständige bereits gegeben, wenn ein Drittel des jährlichen Einkommens bei einem Unternehmen erwirtschaftet wird. Hier kann eine einseitige Honorarvorgabe schnell zur Existenzbedrohung werden“, so Werneke.
Grundsätzlich steht die EU-Generaldirektion „Wettbewerb“ einer Änderung des bisherigen Wettbewerbsrechts positiv gegenüber: „Kollektivverhandlungen können ein mächtiges Instrument sein, um bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen. Für Einzelpersonen, die keine Arbeitnehmer sind, kann das Wettbewerbsrecht jedoch ein Hindernis für Kollektivverhandlungen zur Verbesserung ihrer prekären Situation darstellen.“ Entsprechende Leitlinien will die EU-Kommission noch in diesem Jahr vorlegen.
Was auch immer dabei herauskommen sollte – zweierlei will die Wettbewerbskommission laut Anhörung keinesfalls: „Weder kollektive Verhandlungen/Vereinbarungen über Handelsbedingungen (wie z.B. Preise, die privaten Verbrauchern in Rechnung gestellt werden) noch einseitige Preisfestsetzungen“ sollen „von dieser Initiative erfasst“ werden, heißt es. Eine Praxis, die derzeit von vielen Auftraggebern kraft ihrer wirtschaftlichen Übermacht faktisch praktiziert wird, soll den unterlegenen Solo-Selbstständigen demnach nicht erlaubt sein.
Faktisch sieht es derzeit so aus: Bildungseinrichtungen etwa legen einseitig den Stundensatz für Honorarlehrkräfte (Solo-Selbstständige) fest oder Plattformen geben Click- und Crowdworkern (ebenfalls Solo-Selbstständige) über ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen die Vergütungen vor. Bisher können Solo-Selbstständige dagegen keine sachlich begründeten Untergrenzen bei der Vergütungshöhe – etwa durch branchenspezifische Honorarvorgaben – gemeinsam festlegen.
ver.di reklamiert hier entsprechend das Recht der Gewerkschaften, beispielsweise auch gemeinsam mit den Solo-Selbstständigen verbindliche branchenspezifische Mindesthonorare zu erarbeiten, wenn es keine Gegenpartei gibt, mit der sie verhandeln können, oder wenn eine Gegenpartei dauerhaft nicht zu Verhandlungen bereit ist. Weder Honorarverhandlungen noch Honorarempfehlungen, die durch die gleichen Ziele gerechtfertigt sind, die auch Tarifverträge und Tarifbewegungen verfolgen, stellen schließlich eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Wettbewerbsbeschränkung dar. Sie sind im Gegenteil nützlich für den Binnenmarkt, weil sie helfen, Dumping einzudämmen.
Mehr erfahren? Hier geht's lang
Sie wollen mal mit ver.di-Leuten reden? Fragen stellen oder reinschnuppern? Finden Sie Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner in Ihrer Nähe.
Interaktive Karte Ansprechpartner finden