Oskar Negt, ein Nachruf

Die Gewerkschaftsbewegung verliert mit dem Sozialphilosoph Oskar Negt einen großen Denker, einen wichtigen Befürworter politischer Erwachsenenbildung und einen stets kritischen und solidarischen Begleiter
© Jörg Carstensen/dpa
Oskar Negt, 2011
19.02.2024

Oskar Negt ist tot. Geboren 1934, studierte Negt Soziologe und Philosophie, bezeichnete sich selbst als Sozialphilosoph. Als solcher leitete er für kurze Zeit eine Gewerkschaftsschule. Wie es dazu kam, beschrieb er in seinem Buch „Der politische Mensch“. Demnach wurde er Anfang der 1960er Jahre gefragt, ob er sich als Assistent an der DGB-Bundesschule Oberursel etwas dazuverdienen möchte. Negt sagte zu, mit dem Ergebnis, dass er die Schule gleich für eineinhalb Jahre auch leitete. Später, 1972, gründete Negt in Hannover eine Reformschule, die bis heute existiert.

Der Sozialphilosoph studierte in Frankfurt am Main bei Max Horkheimer und promovierte bei Theodor W. Adorno in Philosophie. Von 1962 bis 1970 arbeitete er als Assistent von Jürgen Habermas. Von 1970 bis 2002 war er Professor für Soziologie an der Universität Hannover.

Bildung war und blieb ein Schwerpunkt Negts. Er beschäftigte sich in seinen Büchern mit den Fragen von Arbeit, Würde und Globalisierung. Bereits 1968 hat er mit dem Buch „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung“ ein Konzept zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit vorgelegt. Anlässlich seines 80. Geburtstags 2014 haben wir ihn im ver.di-Bildungs- und Begegnungszentrum Clara Sahlberg mit der Kamera begleitet und interviewt. In diesem Jahr wäre Oskar Negt 90 Jahre alt geworden. Die Gewerkschaftsbewegung verliert mit ihm einen großen Denker, einen wichtigen Befürworter politischer Erwachsenenbildung und einen stets kritischen und solidarischen Begleiter.

 

 

Oskar Negt und der politische Mensch

Im Folgenden zitieren wir Oskar Negt aus einer Rede, die er 2011 auf einer gewerkschaftlichen Veranstaltung gehalten hat und die im Magazin der Hans-Böckler-Stiftung dokumentiert wurde. Der Auszug umfasst Negts Denken und Schaffen in wenigen Worten und macht deutlich, warum ihm die stete, im Prinzip lebenslange Bildung so wichtig gewesen ist. Seine Worte haben an Gültigkeit nicht verloren, im Gegenteil:

„Der politische Mensch ist eigentlich die Grundfigur der Demokratie. Denn die Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss. In Aristokratien und Diktaturen ist man froh, wenn die Leute nicht allzu viel nachdenken. Dieses Lernen als eine existenzielle Angelegenheit der Demokratie ist nur möglich, wenn die Menschen am Gemeinwesen beteiligt sind und wenn sie miteinander lernen, weil sie ihre Forderungen nicht vereinzelt durchsetzen können. Damit ist das gemeinsame demokratische Lernen ein zentraler Punkt der politischen Bildung.

Aber was sind die Bildungsinhalte? Woraufhin soll der Mensch erzogen werden? Es ist ja geradezu selbstverständlich, dass jemand qualifiziert sein muss für bestimmte Berufszusammenhänge. Aber mit der Qualifikation wird die politische Orientierung nicht mitgeliefert. Bildung meint aber beides - Qualifikation und Orientierung. Zum Beispiel daraufhin, was den Menschen ausmacht.

Heutzutage macht eine merkwürdige Definition vom Menschen die Runde. Es wird so getan, als ob Unternehmer nicht derjenige ist, der Kapital besitzt, sondern der, der seine Arbeitskraft besitzt. Gewissermaßen wird der Mensch auf die Augenhöhe von Josef Ackermann gehoben, indem ihm eingeredet wird, er sei auch Unternehmer oder zumindest Ich-AG. Wenn man Alexander von Humboldt gefragt hätte: "Was ist der Mensch?", hätte er geantwortet: Das ist der wissenschaftlich gebildete Mensch, nur der handelt richtig. Heute erleben wir den Versuch, nicht zuletzt auch durch den europäischen Bologna-Prozess, dieses Freiheits- und Emanzipationselement in der Bildung aus dem Weg zu räumen.

 

„Dabei wäre es wichtig, auch im gewerkschaftlichen Zusammenhang, den autonomiefähigen Menschen zu fördern, der selbstständig denkt und politische Urteilskraft entwickelt. Das ist die einzige Barriere gegen Dogmatisierung.“

Oskar Negt, Sozialphilosoph, 1934-2024

Es ist schon ein gewaltiger Rechtsfortschritt gegenüber der Weimarer Verfassung, dass in unserem Grundgesetz die Würde verankert und zu einer die Gesetze bindenden staatsfundamentalen Norm geworden ist. Aber will jemand, der zu einem gewerkschaftlichen Bildungsseminar kommt, etwas über Würde erfahren? Vor einigen Jahren sollte ich in Düsseldorf auf der Kundgebung zum 1. Mai sprechen, nach dem damaligen Ministerpräsidenten Rüttgers und dem regionalen DGB-Vorsitzenden. Als ich drankam, leerte sich aber schon der Platz. Und so fing ich an, über Würde zu sprechen, ich habe dort praktisch eine Kant-Vorlesung über Würde gehalten - und was passierte? Die Leute kamen zurück. "Würde hat keinen Preis", sagt Kant. Sie gehört zur Ausstattung des Menschen, und es ist schon wichtig, dass wir wieder ein bisschen mehr Philosophie betreiben - im Sinne eines Denkens in gesellschaftlichen Zusammenhängen, jenseits von den fragmentierten Informationen, von denen das heutige Herrschaftssystem lebt.“

aus: Mitbestimmung. Das Magazin der Hans-Böckler-Stiftung, 04/2011

 

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