Leistungsdefizite, Chancenungleichheit und ein Mangel an Pädagog*innen: Die massiven Probleme im deutschen Bildungssystem sind nicht neu und beschneiden immer mehr die Rechte jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen auf bestmögliche Bildung. Und das hat Folgen für die gesamte Gesellschaft. Ein breiter Kreis aus Stiftungen, Verbänden und Gewerkschaften fordert deshalb vom Bundeskanzler und den Regierungschef*innen der Länder, einen grundlegenden Reformprozess im Bildungswesen einzuleiten – mit einem Nationalen Bildungsgipfel.
ver.di schließt sich dem Appell, der unter anderem von der Bertelsmann Stiftung, Deutsche Telekom Stiftung, Karg-Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Vodafone Stiftung, und Wübben Stiftung auf den Weg gebracht wurde mit der grundlegenden Forderung, Bildung zur Chefsache zu machen.
ver.di verweist seit Jahren auf die Probleme im Bildungssystem, die schon im Bereich der frühkindlichen Bildung beginnen. Nach einer qualitativen und quantitativen Ausbauinitiative der frühen 2000er Jahre und der Einführung der Rechtsansprüche auf einen Kita-Platz, zeichnete sich seit 2010 der Fachkräftemangel in den Kindertageseinrichtungen bereits ab. Heute können Kitas aufgrund der nicht kindgerechten Personalausstattung ihren Bildungsauftrag nicht mehr erfüllen, zudem fehlen hunderttausende Kita-Plätze. Dieser Notstand durchzieht ebenso Grundschulen und weiterführende Schulen. Eine Folge ist, dass immer noch viele Jugendliche ohne Schulabschluss die Schule verlassen.
„Gute Ausstattung in Bildungsinstitutionen ist abhängig von der Finanzkraft der Länder und Kommunen und das bedeutet, dass die Arbeitsbedingungen für die Pädagoginnen und Pädagogen sowie die Chancen und Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen weiterhin abhängig sind vom Wohnort und von der sozialen Herkunft. Das ist ein Skandal! Wir fordern deshalb den Bundeskanzler und die Regierungschefinnen und -chefs auf, föderale Grabenkämpfe zu überwinden und Bildung für Kinder und Jugendliche als gemeinsame nationale Aufgabe anzugehen“, sagt die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle.
Laut dem gemeinsamen Appell duldet die Lösung der massiven Probleme im deutschen Bildungssystem keinen weiteren Aufschub. Anlass für den Aufruf hat der Bildungsgipfel gegeben, der am Rand der Bildungsforschungstagung des Bundesbildungsministeriums am 14. März 2023 stattgefunden hat. Nach Ansicht der Unterstützer*innen des Appells wird dieser Gipfel der Herausforderung nicht gerecht wird. „Es ist höchste Zeit, dass Bundeskanzler Olaf Scholz und die Regierungschef:innen der Bundesländer einen echten Nationalen Bildungsgipfel einberufen. Dieser Gipfel sollte alle relevanten Akteur:innen in der Bildung an einen Tisch bringen und den Auftakt zu einem grundlegenden, gesamtgesellschaftlichen Reformprozess markieren, um einen Neustart in der Bildung einzuleiten“, appellieren die Unterstützer:innen.
Die Alarmsignale sind längst unverkennbar und zeigen sich bereits in der frühen Bildungsphase, und das nicht nur in den Kitas. An den Grundschulen gehen die Leistungen seit Jahren zurück, vor allem in den Basiskompetenzen Lesen, Schreiben, Zuhören und Rechnen. An den weiterführenden Schulen sinkt das Leistungsniveau auf allen Ebenen dramatisch. Zugleich wächst die Zahl junger Menschen, die im Berufsleben den Anschluss verlieren: Mehr als eine halbe Million junge Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren gehen weder einer Arbeit noch einer schulischen oder beruflichen Ausbildung nach. Neben individuellen Risiken erwachsen daraus auch soziale und wirtschaftliche Belastungen für die Gesellschaft. Ein Kernproblem deutscher Bildungspolitik bleibt über alle Bildungsstufen hinweg ungelöst: Bildungserfolge hängen hierzulande noch immer zu stark von der sozialen Herkunft ab. Auf diese Weise werden die Chancen und Rechte von Kindern und Jugendlichen beschnitten und Begabungen vergeudet.
Obwohl sich alle Beteiligten viel Mühe geben: Dem Bildungssystem gelingt es immer weniger, die Fehlentwicklungen zu korrigieren. Das liegt zum einen am massiven Mangel an Lehrer*innen und pädagogischen Fachkräften, der sich in den kommenden Jahren noch zu verschärfen droht. Darunter leiden nicht nur die Verfügbarkeit und Qualität der Bildungsangebote an Schulen und Kitas, sondern auch das vorhandene Personal. Die steigende Arbeitsbelastung, insbesondere durch nicht-pädagogische Aufgaben, mindert die Attraktivität der Berufsbilder und schreckt künftige Nachwuchskräfte ab. Die Engpässe haben auch Folgen für die Wirtschaft: Fehlende Plätze in Kitas und der Ganztagsförderung von Grundschüler*innen erschweren die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, während häufiger Unterrichtsausfall die Vermittlung grundlegender Kompetenzen für die Fachkräfte von morgen behindert.
Ein weiteres Problem stellt die Finanzierung des Bildungssystems dar. Sie ist häufig weder auskömmlich noch sozial gerecht. Gerade im Bereich der außerschulischen Angebote ist das Geld zu knapp und nicht langfristig zugesichert. Zudem werden Gelder noch immer zu oft nach dem Gießkannenprinzip verteilt, anstatt sie gezielt dort einzusetzen, wo sie am meisten bewirken können.
Schließlich behindert die Struktur des Bildungssystems selbst Anpassungen und Reformen. Die unsystematische Verflechtung der politischen Ebenen erfordert komplexe Abstimmungen, sowohl zwischen Bund, Ländern, Kommunen und den jeweils beteiligten Ressorts, als auch mit den Trägern. Wohin das führt, zeigen zum Beispiel die zähe Umsetzung des Digitalpakts, der schleppende Ausbau des Ganztagsangebots für Grundschulkinder, die stagnierende Inklusion oder das Fehlen bundesweiter Qualitätsstandards in vielen Bereichen. Gefragt ist eine neue Kultur der Bildungszusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen, wie sie der Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt hat.
Allerdings lässt es die Dringlichkeit der Probleme nicht zu, auf eine Neuordnung der kommunalen und föderalen Zuständigkeiten zu warten. Die Missstände im Bildungswesen reichen weit über Kitas und Schulen hinaus. Sie gefährden sowohl die Chancen und Rechte jedes einzelnen jungen Menschen als auch die Zukunft unserer Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie. Bildung soll den jungen Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung helfen und Orientierung bieten. Sie soll es ihnen ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, an der Gesellschaft teilzuhaben und diese mitzugestalten. Sie soll ihnen die Kompetenzen vermitteln, um in der immer komplexeren Arbeitswelt ihren Platz zu finden. Bildung ist die Grundlage für wirtschaftlichen Wohlstand, Innovationskraft und die Zukunftsfähigkeit unserer demokratischen Gesellschaft. Daher ist es erforderlich, jetzt die Weichen für ein leistungsfähigeres, begabungs- und chancengerechteres Bildungssystem zu stellen.
Ein Nationaler Bildungsgipfel wäre das starke Signal, Bildung zur gemeinsamen Chef*innensache zu erklären. Der Bundeskanzler und die Regierungschef*innen der Länder haben das nötige Gewicht, um gemeinsam mit den Bildungs-, Wissenschafts- und Jugendminister*innen von Bund und Ländern, Vertreter*innen aus der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik, aus Wirtschaft, Wissenschaft, Bildungspraxis, Zivilgesellschaft sowie von Eltern und Schüler*innen zusammenzubringen. Der Nationale Bildungsgipfel sollte den Auftakt zu einem kontinuierlichen Dialog- und Reformprozess mit gemeinsamen Arbeitsstrukturen markieren. Dabei müssen sich alle Akteur*innen auf gemeinsame Ziele sowie geeignete Maßnahmen verbindlich einigen und darauf hinwirken, diese in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung pragmatisch, lösungsorientiert und entschlossen umzusetzen. Nur mit vereinten Kräften kann der Neustart in der Bildung als elementare Voraussetzung für Deutschlands Zukunftsfähigkeit gelingen.
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