Fachkräftemangel, Krankenstand, BurnOut – die Situation in Deutschlands Kitas eskaliert. Bundesweit kämpfen Beschäftigte für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal – in Berlin versuchen sie einen Tarifvertrag Entlastung zu verhandeln. Doch statt zu verhandeln, versucht die Berliner Landesregierung, das Streikrecht zu beschneiden.
Nach monatelangen Versuchen, den Senat zu Verhandlungen zu bewegen, hatte sich die Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten der städtischen Kitas in einer Urabstimmung für den Arbeitskampf ausgesprochen. Während der Urabstimmung gab es erste Bewegung – der Senat signalisiere Verhandlungsbereitschaft. Ein Gespräch am 24. September über eine Notdienstvereinbarung im Streikfall bei den Kita-Eigenbetrieben blieb jedoch ergebnislos. Der unbefristete Streik sollte am 30. September beginnen. Doch das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg untersagte – auf Antrag des Senats – wenige Tage vor Beginn den Streik. ver.di will dagegen juristisch vorgehen und das Urteil überprüfen lassen.
Finanzielle Aufwertung ist keine Entlastungsmaßnahme
Die Urteilsbegründung besagt, dass die im letzten Tarifabschluss vereinbarten Gehaltsverbesserungen, darunter Zulagen von 130 bzw. 180 Euro, eine abschließende Regelung darstellen. Diese werden auch als Maßnahme zum Gesundheitsschutz und zur Entlastung gewertet. Eine Begründung, warum diese Zulagen als Entlastungsmaßnahme gelten, fehlt jedoch.
Tatsächlich dienen sie der finanziellen Aufwertung des Berufs und nicht dem Gesundheitsschutz. „Nur weil die Beschäftigten sich von der Zulage einen Spa-Besuch finanzieren können, wird daraus noch keine Entlastungsmaßnahme", so die Leiterin des ver.di-Landebezirks Berlin-Brandenburg, Andrea Kühnemann.
Das Gericht argumentiert außerdem, dass die Absprache in der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) keine Entlastungstarifverträge abzuschließen, es der Gewerkschaft, verbiete für dieses Ziel zu streiken. ver.di sieht dies als verfassungsrechtlich hoch problematisch. Solche Absprachen könnten Gewerkschaften in ihren grundrechtlich garantierten Rechten einschränken. Zudem widerspricht dies der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), das betont, dass Streiks nicht durch interne Verpflichtungen von Arbeitgeberverbänden verhindert werden können. Eine Auseinandersetzung des Gerichts mit dieser Rechtsprechung fehlt ebenfalls im Urteil.
Kühnemann kritisierte weiter, dass das BAG schon längst festgestellt habe, dass Arbeitgeberverbände durch ihre internen Absprachen nicht das Streikrecht der Gewerkschaften einschränken können.
Zuvor hatten sich der Berliner Finanzsenator Stefan Ewers und Familiensenatorin Katharina Günther-Wünsch, beide CDU, mit Gewerkschaftsvertretern zu einem Gespräch getroffen und Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Der Streik könne noch abgewendet werden, wenn „wir in Verhandlungen kommen und das mit fixen Terminen hinterlegen“, sagte Benjamin Roscher, stellvertretender ver.di-Landesbezirksleiter für Berlin und Brandenburg nach der ersten Gesprächsrunde. Ein Gespräch am 24. September über eine Notdienstvereinbarung im Streikfall bei den Kita-Eigenbetrieben war jedoch ergebnislos zu Ende gegangen.
Der Senat und die Geschäftsleitungen der Kita-Eigenbetriebe forderten, dass 70 bis 80 Prozent der Betreuung abgesichert werden und alle Einrichtungen geöffnet bleiben sollen. Dies würde das Streikrecht der Beschäftigten in einer unverhältnismäßigen Art und Weise einschränken.
„Der Senat sollte sich klar machen, dass das Grundgesetz auch für pädagogische Fachkräfte gilt. Statt zu versuchen, den Streik mit solchen fadenscheinigen Tricks zu verhindern, muss der Senat endlich in Verhandlungen einsteigen“, erklärte die Landesbezirksleiterin weiter. ver.di stehe weiterhin für Gespräche über eine Notdienstvereinbarung zur Verfügung, wenn diese tatsächlich zum Ziel haben, einen echten Notbetrieb zu definieren.
Die Situation in den Hauptstadtkitas ist symptomatisch für das ganze Land. Knapp 97.000 vollzeitbeschäftigte Fachkräfte müssten aktuell in Deutschlands Kitas eingestellt werden, 25.000 in Ost- und 72.000 in Westdeutschland. Und dies nicht, um die ohnehin bestehende Fachkräftelücke zu schließen, sondern allein dafür, um den überdurchschnittlich dramatisch hohen Krankenstand in den Kindertagesstätten durch Vertretungskräfte aufzufangen. Das ist nur ein Ergebnis einer Auswertung von Daten der Krankenkassen in Deutschland durch die Bertelsmann Stiftung.
Die hohen Krankenstände bei den Beschäftigten sind insbesondere auf die enorme psychische Belastung in den Einrichtungen zurückzuführen. Laut DAK-Gesundheit hatten Beschäftigte in Kindertagesstätten 2023 mit 534 Arbeitsunfähigkeitstagen je 100 Versicherte die meisten Krankheitstage auf dem gesamten Arbeitsmarkt. Gleichzeitig wächst in Westdeutschland die Fachkräftelücke. Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) verweist darauf, dass die offenen Stellen in einem Jahr von 24.281 auf 30.311 angewachsen sind. Dies ist die größte Fachkräftelücke aller Einzelberufe im Jahr 2023 und führt dazu, dass die Kitas nicht mehr zuverlässig geöffnet sind, Öffnungszeiten verkürzt, Gruppen zusammengelegt werden müssen und kindgerechte Bildungsarbeit nicht mehr stattfinden kann. Die Kita-Beschäftigten haben das Gefühl, die Kinder nur noch zu „verwahren“. Längst ist eine Abwärtsspirale aus Überlastung der Fachkräfte, Erkrankung, Reduzierung der Arbeitszeit und Fluktuation entstanden, die vor allem die Kinder und Eltern, aber auch die Wirtschaft zu spüren bekommen.
Anlässlich des Weltkindertages am 20. September 2024 unterstützt ver.di unter anderem in Magedeburg den Aktionstag „Das Personal ist der Schlüssel“. Dort werden zahlreiche Kitas geschlossen bleiben, um auf die massiven Personalprobleme aufmerksam zu machen.
Die erstmalig veröffentlichten Detailergebnisse der ver.di-Arbeitszeitbefragung, an der sich bundesweit 12.614 Erzieherinnen und Erzieher beteiligt haben, verdeutlichen die gravierenden Probleme und Personalengpässe in den Kitas. Die Fachkräftelücke wächst von Jahr zu Jahr. Momentan liegt sie bei über 20.000 unbesetzen Stellen – in keiner anderen Berufsgruppe klafft so ein Loch offener Stellen in Deutschland. „Das ist dramatisch und zeigt, dass hier dringend Maßnahmen erforderlich sind, um der Situation entgegenzuwirken“, sagt Christine Behle, stellvertretende ver.di-Vorsitzende.
Laut der Befragung werden offene Stellen aufgrund der Arbeitsmarktlage (66 Prozent) und der schlechten Arbeitsbedingungen (54 Prozent) nicht mehr nachbesetzt. Mit der Folge: 88 Prozent der Beschäftigten fühlen sich nach der Arbeit ausgebrannt und leer, 85 Prozent können sich nicht mehr erholen und abschalten. Viele Beschäftigte verzichten auf Pausen, und machen regelmäßig Überstunden, um nicht besetzte Stellen auszugleichen und ausgefallene Beschäftigte zu vertreten. Rund 70 Prozent fühlen sich dadurch stark belastet.
Dazu bedürfe es zahlreicher Sofortmaßnahmen, die die Erzieher*innen in ihrer täglichen Arbeit entlasten würden, eine Verbesserung der Personalschlüssel und der Stopp des Abbaus der Qualitätsstandards. ver.di drängt zudem auf einen bundesweiten Kita-Gipfels und die Beteiligung des Bundes in einem relevanten Umfang an der Finanzierung.
Das System der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in Deutschland stehe kurz vor dem Kollaps, heißt es in einem dramatischen Appell von Forschenden und verschiedenen Organisationen einschließlich ver.di. Sie alle fordern ein Sondervermögen für Kitas, nur so ließen sich die eklatanten Probleme lösen. „Die Folgen für Kinder, Eltern, Fachkräfte und die gesamte Gesellschaft sind jetzt schon durch eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten sowie eine wachsende Bildungslücke – insbesondere bei von Armut betroffenen oder bedrohten Kindern – fast irreparabel“, schreiben die Unterzeichnenden. Um den drohenden Zusammenbruch des Systems abzuwenden, seien jetzt erhebliche Investitionen und mittelfristig eine kontinuierliche Erhöhung der Ressourcen für das System der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung nötig.
ver.di übt zudem scharfe Kritik am Dritten Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung, welches das Bundeskabinett unlängst beschlossen hat. „Die Bundesregierung bringt das Gesetz erneut ins parlamentarische Verfahren, ohne klare Standards zur Verbesserung der personellen Situation zu vereinbaren. Angesichts des verheerenden Zustandes in den Kitas ein Gesetz vorzulegen, welches nicht zur Entlastung der Fachkräfte und des Kita-Systems beiträgt, ist ein absolutes Armutszeugnis“, so Christine Behle.
ver.di erwarte dringend Nachbesserungen des Gesetzes. „So sind insbesondere Maßnahmen zu finanzieren, die den Personalschlüssel deutlich verbessern. Dabei sind Zeiten zur Vor- und Nachbereitung, von Urlaub, Fortbildungen und Krankheit und die dafür notwendigen Vertretungskräfte zu berücksichtigen“, fordert die Gewerkschafterin. Dringend geboten sei auch, dass sich der Bund am Kita-System dauerhaft beteilige und mit den Ländern einen verbindlichen Stufenplan zu Erreichung von gemeinsamen Standards für einen notwendigen Personalschlüssel vereinbare. Dafür müsse auch das sozialpädagogische Ausbildungssystem, etwa für die Erzieherinnen und Erzieher, berücksichtigt werden, für das es verbindlicher Absprachen, eines Stufenplans und einer Steigerung von Attraktivität der Ausbildung, beispielsweise durch eine Ausbildungsvergütung, bedürfe.
Unter dem Motto „SOS – Kita – Kinder und Beschäftigte gefährdet!“ hatte ver.di die Beschäftigten dazu aufgerufen eine „Kollektive Gefährdungsanzeige“ zu unterschreiben. Bis zum 22. April wurden in den Kitas bundesweit Unterschriften gesammelt. Mehr als 27.000 Unterschriften kamen zusammen und wurden am Freitag, dem 24. Mai 2024 in Bremen an die Ministerinnen und Minister der Jugend- und Familienministerkonferenz übergeben. Damit haben die Beschäftigten die zuständigen Landesministerinnen und Landesminister aufgefordert, endlich Maßnahmen einzuleiten, um die dramatische Situation zu stoppen und nachhaltige Änderungen herbeizuführen.
Auch in Baden-Württemberg wurde die Aktion durchgeführt. Hanna Binder, stellvertretende ver.di Landesbezirksleiterin: „Auch in den baden-württembergischen Kitas gibt es täglich Hunderte Anlässe für Gefährdungsanzeigen: Weil die pädagogischen Fachkräfte seit Jahren am und über dem Limit arbeiten. Unter dem Fachkräftemangel leiden am meisten die Fachkräfte selbst, die den Kita-Alltag mit Personalunterdeckung stemmen müssen. Sie werden zerrissen zwischen ihrem eigenen Anspruch an ihre Arbeit und den berechtigten Qualitätsanforderungen der Eltern, die frühkindliche Bildung erwarten und nicht nur Betreuung.“
An drei aufeinanderfolgenden Warnstreiktagen für einen Tarifvertrag „Pädagogische Qualität und Entlastung“ hatten sich vom 10. Juni bis zum 12. Juni über 3.000 pädagogische Fachkräfte aus den fünf Berliner Kita-Eigenbetrieben beteiligt. Zu den Streiks aufgerufen hatte ver.di, weil der Berliner Senat sich bislang Tarifverhandlungen verweigert. „Fast die Hälfte der pädagogischen Fachkräfte hat sich an dem Ausstand beteiligt. Das zeigt, dass die Hütte wirklich brennt. Die Kolleg*innen haben in den letzten Tagen gezeigt, dass sie die Blockadehaltung des Berliner Senats nicht akzeptieren werden“, erklärte die ver.di-Landesbezirksleiterin für Berlin-Brandenburg, Andrea Kühnemann. Nach den Sommerferien, am 19. September, hatte ver.di erneut zu einem ganztägigen Warnstreik in den Kita-Eigenbetrieben aufgerufen und die Urabstimmung über einen unbefristeten Streik gestartet, für den sich einen Tag später die Mehrheit der Beschäftigten ausgesprochen hat.
ver.di hatte am 19. April das Land Berlin zu Tarifverhandlungen aufgefordert. Finanzsenator Stefan Evers weigerte sich jedoch, zu diesem Gegenstand Tarifverhandlungen aufzunehmen und verwies auf die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), in der Berlin Mitglied ist. Noch beim Arbeitnehmer*innenempfang vor dem 1. Mai hatte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner den Beschäftigten der Kita-Eigenbetriebe ein Gespräch zu ihren Forderungen zugesagt. „Es ist absurd. Während die landeseigenen Krankenhäuser Charité und Vivantes mit ihren Entlastungstarifverträgen um neues Personal werben, verweigert das Land Berlin jegliche Gespräche zu einem Tarifvertrag für seine Kitas“, sagte ver.di-Verhandlungsführerin Bettina Weitermann.
Nach einem ersten Warnstreik am 6. Juni gab es keinerlei Reaktion aus der Berliner Politik. „Für uns Beschäftigte ist die Antwort von Stefan Evers ein Schlag ins Gesicht. Es ist leider nicht das erste Mal, dass wir von den politisch Verantwortlichen enttäuscht werden. Aus Verantwortung für die uns anvertrauten Kinder und für die Zukunft unseres Berufs werden wir uns jedoch mit dieser Antwort nicht zufriedengeben. Wir werden jetzt den Druck erhöhen, damit der Berliner Senat endlich seiner Verantwortung für die Situation in den Kita-Eigenbetrieben gerecht wird“, erklärte Sabine Krohm ver.di-Aktive im Kita-Eigenbetrieb Nordwest.
Die Streiks sorgen inzwischen für Bewegung beim Berliner Senat. So fand am Streiktag 12. Juni ein Gespräch mit der Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch über die Notwendigkeit der Verbesserung bei der Fachkraft-Kind-Quote statt. In diesem Gespräch hat die Senatorin den Problemdruck in den Kitas grundsätzlich anerkannt. Auch der Regierende Bürgermeister Kai Wegner hatte schließlich auf eine Gesprächsanfrage zu dem Thema geantwortet. Ein konkreter Termin sollte schnellstmöglich gefunden werden.
„In dem Gespräch mit Frau Günther-Wünsch hatten wir erstmals den Eindruck, dass unser Anliegen einer Verbesserung des Fachkraft-Kind-Schlüssels beim Berliner Senat endlich angekommen ist. Dies zeigt uns, dass es notwendig war, in den Streik zu treten, damit unser Anliegen ernst genommen wird. Enttäuscht sind wir, dass es noch immer keine Zusage für die Aufnahme von Tarifverhandlungen gibt. Das zeigt uns, dass wir den Druck aufrechterhalten müssen“, erklärt Anne Lembcke, pädagogische Fachkraft im Kita-Eigenbetrieb Kindergärten Nord-Ost und Mitglied der ver.di-Tarifkommission.
Und das tun die Beschäftigten auch. Am 20. und 27. Juni standen Tausende vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Die Streiks gehen weiter. Solange bis es zu Verhandlungen kommt.
Am 18. April hatte die ver.di-Tarifkommission der fünf Kita-Eigenbetriebe des Landes Berlin die Forderungen für einen Tarifvertrag „Pädagogische Qualität und Entlastung“ einstimmig beschlossen und einen Tag später ihrem Arbeitgeber, dem Land Berlin, übergeben. „Wir wollen zeitnah in Verhandlungen eintreten und im Interesse der Beschäftigten einen Tarifvertrag zu verhandeln“, so Bettina Weitermann vom ver.di-Tarifsekretariat Öffentlicher Dienst am 25. April auf der Pressekonferenz zum Start der Tarifkampagne.
Zur Sicherung einer guten pädagogischen Arbeit fordert ver.di die Festlegung einer Mindestpersonalausstattung und damit auch die Verbesserung der „Fachkraft-Kind-Relation“, was beinhaltet, wieder jedem Kind gerecht werden zu können. Darüber hinaus will ver.di Regelungen zum Belastungsausgleich für den Fall der Nichteinhaltung der Mindestpersonalausstattung und mehr Zeit für die Ausbildung festlegen, um dem verschärften Fachkräftemangel und der hohen Fluktuation entgegenzuwirken.
Die Realität in den Berliner Kitas ist wie in vielen anderen Bundesländern von einer seit Jahren eskalierenden Personalkrise geprägt. „Kinder haben ein gesetzliches Anrecht auf Förderung in einer Kindertagesstätte. Aber von den drei Säulen der Förderung – Bilden, Betreuen und Erziehen – bleibt häufig nur noch das Betreuen, also das Aufbewahren der Kinder“, sagte Anne Lembcke, Pädagogische Fachkraft im Kita Eigenbetrieb Nordost auf der Pressekonferenz im April. Das sei frustrierend – für das Personal selbst, die ihren Ansprüchen an ihre Arbeit nicht mehr gerecht werden können, und auch für die Kinder, die ständig zurückstecken müssten. „Kitas sind aber keine Aufbewahrungs- sondern Bildungsstätten.“
Pädagogische Fachkräfte verlassen den Beruf, weil die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Berufs für sie zunehmend unerträglich wird. Eine Abwärtsspirale, die darin ufert, dass selbst die Betreuung oft nicht mehr gewährleistet werden könne. Verkürzte Öffnungszeiten, Gruppenaufteilung, Gruppenschließungen, Kitaschließungen seien in Berlin mittlerweile keine Notlösungen mehr, sondern Alltag geworden. „Wir können Eltern kein zuverlässiger Partner mehr sein, um die Vereinbarkeit von Elternschaft und Berufstätigkeit zu ermöglichen“, so Lembcke, die auch Mitglied der ver.di-Tarifkommission ist.
„Wir schauen täglich in unsere WhatsApps, E-Mails, Telegram-Kanäle und hoffen inständig, dass die Kita aufhat, die Gruppe aufhat, dass unser Kind kommen kann – und das für hoffentlich mehr als zwei Stunden“, sagte Mascha Krüger. Die Gesamtelternvertreterin des Trägers Kindergärten Nordost und Gründerin der Elterinitiative „Einhorn sucht Bildung“ war auch zur Pressekonferenz gekommen, um die Beschäftigten und ihre Tarifbewegung zu unterstützen. Bei den Eltern sei die Belastungsgrenze mehrfach überschritten. Eine langfristige Planung, so Krüger, und mit langfristig sei eine Woche gemeint, sei für die Eltern nicht möglich. Von pädagogischer Arbeit würden sie nicht mal mehr träumen. Die Situation sei extrem. „Es ist nicht mehr 5 vor 12, es ist viertel nach zwölf. Die Politik muss jetzt handeln.“
Seit Jahren machen die Beschäftigten und ihre Gewerkschaft auf das Problem aufmerksam. Sie haben protestiert und diskutiert, Petitionen überreicht, das Gespräch mit den politischen Verantwortlichen gesucht. „Aber man will uns nicht sehen und hören“, so Nikola Liebner, Pädagogische Fachkraft im Kita Eigenbetrieb Südost und ebenfalls Mitglied der ver.di-Tarifkommission. „Wir haben versucht, der Politik eine kollektive Gefährdungsanzeige zu übergeben, aber niemand hat sie entgegengenommen.“ Es sei jetzt an der Zeit, gemeinsam etwas zu verändern.
Bettina Weitermann ist sicher: „Wenn wir über einen Tarifvertrag eine vernünftige, verbindliche Personalausstattung, einen nachvollziehbaren Belastungsausgleich und eine gute Ausbildung haben, dann können wir diese Abwärtsspirale ins Gegenteil umkehren.“ Daran will auch Anne Lembcke glauben: „Wir erhoffen uns davon, dass wir endlich wieder so erziehen und betreuen können, wie es unserem pädagogischen Anspruch entspricht und vor allem, wie es den Kindern auch zusteht!“
Wenn es nach ver.di gegangen wäre, hätten die Verhandlungen schon Mitte Mai begonnen. Um ihre Forderungen durchzusetzen, seien die Kolleg*innen auch bereit, in den Arbeitskampf zu gehen. „Wir wollen an den Verhandlungstisch mit dem Land Berlin, aber für den Fall der Fälle sind die Beschäftigten der fünf Kita-Eigenbetriebe willens und absolut in der Lage spürbare Arbeitskampfmaßnahmen durchzuführen.“ Bei Streiks werden natürlich auch Eltern betroffen sein. „Aber sie sind ja jetzt schon betroffen“, sagt die Gewerkschafterin. Mascha Krüger pflichtet ihr bei. Selbst wenn es zu Streiks kommt, es tue nicht mehr weh. „Die Kita hat eh zu.“ Viele Eltern würden hinter den Beschäftigten stehen und sie ist zuversichtlich, dass es noch mehr Eltern werden. „Wir Eltern wollen diese Initiative nicht nur unterstützen, wir müssen sie unterstützen.“
Stellvertretend für die 722.000 pädagogisch und leitenden Beschäftigten in den KiTas haben seit Herbst 2023 in fast allen Bundesländern Beschäftigte aus Kitas wochenlang immer wieder vor Staatskanzleien, Senaten, Landes – und Bundesministerien gestanden, um über die anhaltend prekäre Situation in Deutschlands Kindertagesstätten zu informieren. Am 21. Dezember 2023 fand offiziel die letzte dieser wöchentlichen Mahnwachen unter dem Motto „Donnerstag für gute KiTas – Es donnert in den KiTas“ statt, tatsächlich werden sie an manchen Orten wie etwa in Leipzig forgesetzt. Dort haben sich Erzieher*innen und Eltern zusammengeschlossen, um weiter auf die Missstände in den Kitas aufmerksam zu machen. Einmal im Monat kommen sie vor dem Rathaus zusammen, um sich Gehör bei der Politik zu verschaffen.
„Mit ihren Aktionen konnten die Kolleginnen und Kollegen mit vielen verantwortlichen Politikerinnen und Politkern ins Gespräch kommen. Auch in den Ministerien und im Kanzleramt haben Gespräche stattgefunden. Jetzt müssen wir Taten sehen“, fordert die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle. „Uns ist klar, dass sich die Länder keine Fachkräfte für die KiTas ,backen' können. Doch weiteres ungeplantes und unabgestimmtes Vorgehen wird die Krise weiter verstärken“, so Behle. Schon jetzt bestehe eine erhebliche Gefährdung für Kinder und Beschäftigte in den Einrichtungen. Dem Bildungs- und Betreuungsauftrag könne man nicht mehr im notwendigen Umfang gerecht werden und die Beschäftigten würden häufig erkranken oder das Arbeitsfeld verlassen.
Die jährliche Pisa-Studie würde deutlich zeigen, wie es um die Fachkräfte von morgen stehe, betont Behle. Frühkindliche Bildung in einem stabilen KiTa-System seien die Grundlage für Bildungsgerechtigkeit, für eine funktionierende Wirtschaft und eine demokratische Gesellschaft.
Am Morgen des 30. November 2023 hatten sich zahlreiche KiTa-Mitarbeitende auch vor dem Bundeskanzleramt in Berlin versammelt, um bei Minus 5 Grad mit einer Mahnwache auf die katastrophalen Bedingungen für KiTa-Beschäftigte aufmerksam zu machen. Trotz des eisigen Wetters standen die KiTa-Mitarbeitenden aus Berlin und Brandenburg mit Plakaten und Transparenten, umgeben von blau leuchtendem Schnee, entschlossen und solidarisch zusammen. Die wöchentlichen Mahnwachen, die ab dem 19. Oktober 2023 vor verschiedenen politischen Institutionen in ganz Deutschland stattgefunden hatten, sind Teil der fortlaufenden Bemühungen gewesen, auf die dringenden Bedürfnisse und Forderungen der KiTa-Beschäftigten aufmerksam zu machen.
„Von Jahr zu Jahr nimmt der Fachkräftemangel zu, ohne dass sich die Politik rührt und endlich gemeinsam und systematisch vorgeht", mahnte Christine Behle vor dem Kanzleramt und unterstrich die eskalierende Problematik des Fachkräftemangels, der zunehmend unadressiert bleibe. Sie forderte dringend einen bundesweiten KiTa-Gipfel, bei dem das Kanzleramt die Verantwortung übernimmt und gemeinsam mit den Bundesministerien, den Ländern und den Kommunen Maßnahmen zur Stabilisierung und zum Ausbau des Systems entwickelt.
Anette Krapp ist Erzieherin und arbeitet seit 40 Jahren in Kindertagesstätten. Die 58-Jährige liebt ihren Job, opfert aber Freizeit und Wochenenden zur Regeneration. Unserer Mitgliederzeitung ver.di publik erzählte sie Anfang des Jahres, dass weder für notwendige Teambesprechungen genügend Zeit bliebe noch für Kolleginnengespräche. Alle seien insgesamt viel gereizter. Vor allem fehle die Zeit für Pädagogik: „Frustrierend ist, wenn du wegen der personellen Engpässe deinen eigenen pädagogischen Maßstäben nicht mehr gerecht werden kannst.“
Richtig stressig wird es für die erfahrene Erzieherin, wenn sie mit zwölf Krippenkindern allein ist, eines hinfällt und weint, zwei sich streiten und zwei volle Windeln haben. Dann sei der permanente Lärm noch schwieriger zu ertragen. Und dann käme es auch vor, dass Kolleginnen stressbedingt weinen, die seien dann richtig fertig.
Anette Krapp ist keine, die sich beklagt. „Eigentlich ist der Job ganz toll, ich arbeite sehr gerne mit Kindern“, sagt sie. Wenn bloß die Bedingungen nicht gefühlt immer schlechter, das Personal immer weniger werden würde. „Wenn du 20 Kinder gewickelt hast, hast du Rücken am Abend.“
Seit einigen Jahren erleben die Beschäftigten der Kitas einen ständig wachsenden Fachkräftemangel. Auch die offiziellen Berechnungen zeigen, dass die Fachkräftelücke stetig steigt. Die Agentur für Arbeit spricht inzwischen von einem Engpassberuf. Und bei diesen Zahlen sind die Bedarfe für einen Ausbau des Systems oder die Anhebung der Qualität noch nicht einmal eingerechnet.
Der Personalmangel trifft auf KiTas, die ohnehin schon mit Personalschlüsseln ausgestattet sind, die nicht kindgerecht sind. Die Zahlen des zuletzt am 28. November 2023 veröffentlichten Ländermonitors zeigen die Probleme deutlich: In den westdeutschen Ländern fehlen demnach 385.900 und in Ostdeutschland 44.700 Kita-Plätze, um die Wünsche der Eltern zu erfüllen. Gleichzeitig zeigt der Fachkräfte-Radar, dass sich an der brisanten Fachkräftesituation und der Belastung des Personals in absehbarer Zeit nichts ändern wird. Nur in den ostdeutschen Ländern ließe sich die demografische Entwicklung – die sinkenden Kinderzahlen – dafür nutzen, die Personalschlüssel zu verbessern.
Kommunen und Länder reagieren auf die Nachfrage nach Kitaplätzen bisher mit dem Ausbau der Kindertageseinrichtungen und der Schaffung neuer Plätze. Wenn neue Einrichtungen eröffnen, wird das Personal aus den umliegenden KiTas in der Region abgezogen. Doch so wird die Personaldecke in allen KiTas immer dünner und der Personalmangel wächst stetig. Die Folgen: KiTa-Beschäftigte erkranken häufiger, fallen aufgrund von Burnout lange Zeiten aus oder sie verlassen ihren Beruf gleich ganz.
Laut der eingangs schon erwähnten Studie der Krankenkasse DAK sind 97 Prozent der Beschäftigten in den Kitas vom Personalmangel betroffen. Der Krankenkasse gegenüber geben die Beschäftigten an, dass es allgemein zu wenig Mitarbeiter*innen und ungewöhnlich viele Personalausfälle gebe. Das heißt: Dort wo Personalmangel erlebt wird, sind die Personalausfälle besonders hoch. Und das heißt auch, die Personalausfälle durch Erkrankungen steigen. Laut DAK ist keine andere Berufsgruppe häufiger wegen Erkrankungen des Atmungssystems oder aufgrund psychischer Erkrankungen arbeitsunfähig. Für die Fachkräfte der Kindertageseinrichtungen bedeutet dies, dass sie ihrem Arbeitsauftrag, der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern nicht mehr nachkommen können.
Eine Verlässlichkeit für die Eltern ist längst nicht mehr gegeben. Notgruppen, Reduzierung der Öffnungszeiten oder auch Schließungen von Gruppen sind an der Tagesordnung. Es müsse seitens der Politik endlich die Verantwortung übernommen werden, sagt Behle. Auch die Eltern dürften in dieser schwierigen Situation nicht allein gelassen werden. Sie benötigten dringend Unterstützung, damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wieder verlässlich möglich wird.
Erzieher*innen sind qualifizierte Pädagoginnen und Pädagogen. Sie haben sich für ihren Beruf entschieden, weil sie Erfüllung darin finden, mit viel Wissen, Einsatz und Begeisterung, kleine Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen. Dass ihnen das im Zweifel mehr bedeutet als Geld, ist ehrenwert, darf aber nicht zu Selbstausbeutung führen. Erzieher*innen erfüllen wichtige Aufgaben, sie tragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei und kümmern sich um die zukünftige Generation. Es muss ein gesellschaftlicher Konsens darüber hergestellt und formuliert werden, welche Bedeutung frühkindliche Bildung hat – nämlich eine immens hohe, weil sie die Entfaltungsmöglichkeiten ein Leben lang beeinflusst. Und dann müssen die Konsequenzen daraus gezogen werden: eine höhere Wertschätzung, bessere Personalausstattung für die Kolleg*innen, höhere Entgelte, die das gewachsene Anforderungsprofil abbilden, und mehr Aufstiegs- und Spezialisierungsmöglichkeiten, etwa in Richtung Sprachförderung, Inklusion und Beratung.
Im Sinne der Nachwuchsgewinnung sollte die Ausbildung besser gestaltet werden. Soziale Berufe müssen insgesamt aufgewertet werden und es gilt, Schule und Praxis besser zu verzahnen. Nicht zuletzt sollte es selbstverständlicher werden, dass auch Männer den Beruf erlernen. Inspirierend könnte ein Blick nach Frankreich und Schweden wirken: Dort ist die öffentliche Kinderbetreuung sehr gut ausgebaut, die Erzieher*innen sind exzellent ausgebildet und werden auch entsprechend bezahlt: Ihr Gehalt orientiert sich an dem von Lehrer*innen.
Um die Situation für Beschäftigte, Kinder und Eltern in Deutschland zu ändern, müsste den ver.di-Forderungen umgehend entsprochen werden:
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